Sie entschieden sich dazu, Kienzle einzuweihen und mit Ihm zusammenzuarbeiten. Wie ordnen Sie die Motivation von Herrn Kienzle ein, auf Ihr Angebot einzugehen?
Wir sahen uns einem längeren, mit Wendungen und Dramatik versehenen Entscheidungsprozess ausgesetzt, den ich kurz sortieren und zusammenfassen möchte. Wie ich bereits erwähnte, ergab sich aus unserem Kreditgespräch keine Finanzierung des mittlerweile fiktiven Bauprojekts, wohl aber Verbindung zum einflussreichen Freymuth Kienzle. Dessen anfängliche Motivation sich uns zuzuwenden wird wohl ein Rätsel bleiben. Denkbar wäre jedoch, dass ihn sein Instinkt, wie Ihn Geschäftsleute ab und an zu haben pflegen, gleich einer uns verborgenen Witterung, zu uns geleitet haben könnte.
So nahmen wir seine Einladung an und fanden uns zum vereinbarten Tag im Club Royal ein – dem gehobenen Etablissement am Ort und Treffpunkt der Stralsunder Oberschicht. Er befand sich nicht weit ausserhalb der Stadt auf einem kleinen felsigen Hügel am Meer, der es vollbrachte, Gartenkunst als ästhetisch vollendeten, neuzeitlichen Verteidigungswall zu interpretieren. Rautenförmig wanden sich Buchsbaumhecken die Erhebung hinauf, in geduldiger Erwartung einer Belagerung durch die Arbeiterklasse. Gründe zu einer Erstürmung wären durchaus vorhanden gewesen, hätte jemals ein Arbeiter das Innere des Clubs zu Gesicht bekommen – und wäre wieder herausgekommen um den anderen davon zu berichten. Eine asphaltierte Straße, gemacht für schicke Automobile statt für Menschen, führte durch dieses grüne Labyrinth hinauf ins Herz des Wohlstands von Stralsund.
Wir warteten im Empfangsraum des Club, der sich in Pracht und Protz noch zurückzuhalten in der Lage sah. Im Wartesaal drückte Walter sein Kreuz in die überaus weichen, kleinen Polster der Rückenlehne eines Kirschholzstühlchens, welche uns beiden jeweils für die Wartezeit herangetragen worden war. Ich hatte meinen Kopf in den Nacken gelegt und betrachtet das Deckenfresko der Empfangshalle. Darauf ein muskulöser Meeresgott mit grünen Haaren und einem gezwirbelten Schnurrbart. Zur Linken einen silbernen Dreizack, zur Rechten ein graues Pferd, das sich nahtlos aus einer gewaltigen Schaumkrone zu lösen schien. Spiralförmig im Hintergrund wanden sich zahlreiche Fischfrauen – menschlich bis zum Hals mit dem Kopf eines Karpfens. Ihre grazilen Beine ineinander verschlungen, die Hände auf den Brüsten der jeweils vorherigen Schwimmerin bildeten sie ein dichtes Netz, das Neptun zu umschlingen drohte – oder einzuwickeln versprach. Sein Blick legte beides nahe.
Ein kleiner Mann öffnete die Tür. Ihn zierte eine Uniform, die entfernt an die Tracht eines Toreros erinnerte. In Gelb, Rot und Blau fielen Rüschen hinab auf seine Beine und Arme. Ich war einigermaßen irritiert über diese Aufmachung. Mit einem künstlichen französischen Akzent stellte sich der Mann als Monsieur Fachauvi, rechte Hand des Herrn Kienzle, vor. Meine Irritation wuchs, zumal er zwischen all den französischen Vokabeln nicht leicht zu verstehen war. Wir folgten ihm in ein Kaminzimmer, in dem Freymuth Kienzle höchst selbst am Kamin saß und drei kleine Gläser goldener Flüssigkeit einschenkte.
Wie sich herausstellte, war das (noch heute über die Region hinaus bekannte) Stralsunder Goldwasser eine Erfindung Kienzles und einiger mit ihm befreundeter Amateurchemiker. Statt Blattgold in das Getränk zu streuen wie die Prager oder Schwabacher Brenner es zu tun pflegten, hatte die kleine Truppe in den letzten Tagen des Kaiserreichs eine Möglichkeit gefunden Eierlikör mit einem goldenen Pigment zu versetzen, das zugleich bekömmlich war und sich nicht auf dem Flaschenboden absetzte. Die bisherigen Versuche der kleinen Gruppe, diese Spezialität in Stralsunder Kneipen darüber hinaus zu etablieren waren jedoch mit wenig Erfolg beschieden gewesen. Zu lang hatte der Korn die Menschen hier durch schwere Zeiten getragen, dass man nun so einfach seine Gewohnheiten hätte ändern wollen.
Kienzles Ausführungen zur Entstehung des Stralsunder Goldwasser wurden von ausladenden Monologen flankiert, seine Sicht auf verschiedene Innovationen und das Unternehmertum generell ins Bild rückend. Als er jedoch entschieden hatte, dass die seiner Meinung nach relevanten Fakten für uns nun miteinander verwoben waren, kam er dann endlich zum eigentlichen Grund seiner Einladung: Er und seine Kumpanen erwogen, eine Variante des Goldwassers mit Kohlensäure versetzt auf den Markt zu bringen um zu sehen, ob der Absatz des Getränks sich nicht auf diese Weise steigern ließe. Als er nun zu unserem Kreditgespräch realisierte, zwei Herren mit exzellenten Kenntnissen in der Gasgewinnung vor sich zu haben, entschloss er sich zu handeln.
Kienzle wollte uns abwerben. Walter und ich, sichtlich überrumpelt von dieser schicksalhaften Wendung, erbaten uns Bedenkzeit und verließen das Haus. Walter war alles andere als überzeugt von diesem Angebot, drohte es doch unsere gerade neu gewonnene Autonomie durch neue Abhängigkeiten und Profanitäten zu ersetzen. Gedanken in und her schiebend liefen wir durch die Straßen, bis wir uns in einer Hafenkneipe niederließen um zu erproben, ob nicht ein Glas Bier unsere Gedanken auf den richtigen Pfad zu lenken im Stande wäre.
So saßen wir eine Weile beisammen und fühlten uns gleich zwei Seiltänzern im Nebel – egal in welche Richtung man zu hangeln übereins käme, man schien ins graue Nichts zu laufen. Nach einiger Zeit jedoch half das Bier in gewohnter Weise doch eine dritte Gelegenheit zu entdecken, die direkt unter unseren Füßen den Boden sichtbar machte, auf das der Sprung vom Seil als Alternative in den Blick rückte und nicht mehr ganz so tödlich schien: Wir beschlossen die Karten offen zu legen und Kienzle in unsere Helitmain-Forschung einzuweihen, um ihn unsererseits von seiner Spirituosenproduktion abzuwerben und ihn in unser Vorhaben als Geschäftsmann und Finanzier zu integrieren.
Darüber war es Nacht geworden und wir zwei fröhlichen Gesellen, glücklich zu einem Weg aus unserem Dilemma gelangt zu sein, traten auf die Straße, voller Tatendrang und Redebedarf mit unserem neuen Partner und Freund Freymuth Kienzle. In heiterer Stimmung schlugen wir unsere ursprünglichen Pläne in den Wind, am nächsten Morgen einen weiteren Termin mit seinem Bankiersbüro zu vereinbaren und ließen uns von einer der wenigen mietbaren Kutschen Stralsunds in standesgemäßer Weise direkt zu Kienzles privater Residenz befördern.
Freymuth Kienzle öffnete uns persönlich die Tür und ließ uns wortlos eintreten. Sein Pyjama zeigte eine mittelalterliche Jagdszene in Blau und Orange. Auf dem Rücken prangte ein Hirsch, an einen Pfahl gebunden, der von zahlreichen Pfeilen durchbohrt zu Boden sank. Ihn umgaben junge Männer mit Armbrüsten, spitzen Nasen und spitzen Hüten. Ich hatte einige Zeit die Gelegenheit, die Seidenstickerei zu betrachten, während wir ihm folgend durch die spärlich beleuchtete, jedoch sehr große Wohnung schritten.
Kienzle leuchtete uns den Weg mit einer goldenen Öllampe, die er am erhobenen Arm vor sich her durch die Gänge trug. Der gelbe Lichtschein glitt über Regale, in denen sich perlmuttene Vasen, bronzene Figürchen, geschliffene Gläser und ornamental verzierte Buchrücken im Art Nouveau Stil stapelten. Ich beobachtete, wie Walter diese Sammlung moderner Wiener Handwerkskunst im Vorbeigehen bewunderte, was er mir durch seine ehrfurchtsvoll hochgezogenen Augenbrauen verdeutlichte. Kienzle drückte einen Türgriff, der einer Seerose mit sich verästelnden Wurzeln nachempfunden war und führte uns in einen großen Raum, beleuchtet von einem grün gekachelten Kamin, an dem sich bronzene Flammen, Efeu gleich emporrankten.
Im Kaminzimmer war der uns bereits bekannte Monsieur Fachauvi bereits im Begriff drei geschliffene, kleine, gläserne Becher mit Likör zu füllen und diese auf einem kleinen Beistelltisch zu platzieren, der von einer mamornen Wassernymphe gestützt wurde. Er trug ebenfalls einen bestickten Pyjama. Dieser zeigte eine Szene aus dem alten Testament. Eine Frau beugte sich hinab zu einem Weidenkörbchen. Links und rechts davon bogen sich Schilfrohre entlang der Ärmel, die in goldenen Fransen ausliefen und von den Ellenbogen herabhingen.
Walter wagte den Schritt ohne Umschweife direkt aufs Thema zu. Er entschuldigte sich, im Gespräch am heutigen Mittag nicht sofort zu einer Entscheidung fähig gewesen zu sein. Ganz und gar unangebracht wäre die Unverbindlichkeit gewesen, mit dem man dieses sehr lehrreiche und vertraute Miteinander hatte ausklingen lassen. Jedoch wäre es – wie so häufig – etwas Gutes, wichtigen Entscheidungen einem zweiten Blick zu unterziehen. So sei es nun möglich, die Dinge zu ordnen und Kienzle unsererseits ein Angebot zu machen, in dem sich mit Sicherheit beiderseitig Interessen einbringen lassen würden. Walter breitete unter Schmeicheleien und Verrenkungen zusehends den Boden aus, auf dem wir in der Lage waren, unsere Forschungen zu präsentieren.
Nach und nach eröffneten wir Kienzle unsere Entdeckungen, denen er, von seinem Ohrensessel aufgesprungen, bei flackerndem Kamin schweigend gehör schenkte. Als Walter zum Ende kam, kramte ich wie zuvor besprochen einige der Aufnahmen aus meiner Tasche, die ich von den schwebenden Kaninchen in unserer Pension angefertigt hatte und reichte sie Walter. Kienzle, nach unseren Ausführungen mehr und mehr hypnotisiert, betrachtete lang die kleinen Bildchen, die unsere Fortschritte klar und deutlich hervorhoben. Auch Monsieur Fachauvi hatte seine Arbeit unterbrochen. Mit dem Staubwedel in der Hand stand er im halbdunklen Raum und lauschte der Erzählung.
Kienzle, schob sich auf seinen Pantoffeln von einer Seite des Raumes zu anderen, immer wieder in Richtung der Bilder blickend, die Walter nach wie vor einer Ikone gleich in die Höhe hielt. Ab diesem Zeitpunkt waren wir uns sicher, dass wir mit seiner Unterstützung in unserer Unternehmung rechnen konnten. Zu sehr war erkennbar, dass auch Freymuth die enormen Möglichkeiten, welche das Helitamin zu bieten hatte, erfasste und bereits für sich im Stillen in seine ganz eigene Währung umzurechnen begann.