Frage 12

Darauf folgte ein erneuter Wechsel ihres persönlichen Umfeldes. Welche Wirkung hatten das Militär und die neuen Kollegen in Köln-Wahn auf sie?

Entgegen meinen Erwartungen folgte der Dienst in Wahn nicht unmittelbar auf unser geschildertes Gespräch im Oktober 1914. Beinahe zwei Jahre sollte ich auf immer neuen Aushilfspositionen der HAW fristen, bis mich endlich der befreiende Ruf nach Wahn ereilte, wo Walter bereits seit Monaten in Aufbau, Umbau und Einrichtung eines Labors begriffen war.

An jenem Sommerabend im August fand ich mich nun erwartungsfroh und voller Tatendrang auf dem Forschungsgelände ein – nur kurz bevor das Eintreffen der weiteren Mitstreiter unsere Einheit komplettieren sollte. Es waren eindrucksvolle Stunden, in denen mir allein über das Gelände zu streifen vergönnt war und ich halte sie noch immer in bester Erinnerung. Die vom Tage sich zärtlich trennende Abendsonne hatte Gelände und Gebäude in den tiefsten aller orangen Schleier gehüllt. Mir war ganz so, als ob ich durch ein Diorama wandelte oder eine Miniaturlandschaft, wie sie Kinder zu begeistert vermag, da sie in ihr eine eigene, geborgene und ihnen ganz gerechte Welt erblicken. So zog es mich um die windschiefen Häuser, entlang der Begrenzungsmauer und zurück zu den neu errichteten Flugzeugschuppen, an denen entlang sich ein breiter Streifen frischen Asphalts dem ihm gegenüberliegenden Tannenwäldchen entgegenstreckte.

Der geschilderte Umbau war zuvorderst unserem Wahner Oberbürgermeister und glühenden Amateurpiloten August-Wilhelm Thiel zu verdanken. Unermüdlich hatte er am kaiserlichen Hof seine Bitte vorgetragen, den von ihm ersonnenen Flugplatz mit einer finanziellen Aufmerksamkeit aus der Reichsschatulle zu unterstützen. Stets pflegte er darauf hinzuweisen, dass die Fliegerei sich innerhalb der französischen Armee bereits einen festen Platz erstritten hatte und sich dies im Falle einer Konfrontation für deutsche Truppen als kriegsentscheidender Nachteil herauszustellen drohte. Ein ganzes Jahr wurde bereits gekämpft, als endlich ein Budget für die Gründung des offiziellen Luftwaffenstützpunktes Köln-Wahn des deutschen kaiserlichen Heeres bewilligt wurde, was unseren treuen Soldaten die Möglichkeit eröffnete, unseren Rückstand im Flugzeugbau aufzuholen. Noch am selben Tag war Walter aufgebrochen, um Bauarbeiten und Ausstattung der neuen Räumlichkeiten zu überwachen. Über die höheren Ziele unserer Mission hatte er sich bis zuletzt verschlossen gezeigt und so blieb ich selbst nach seiner Abreise darüber im Unklaren, was genau wir in unserer neuen Wirkungsstätte zu erwarten haben würden. Stutzig, aber auch stolz, ließen mich zwei Soldaten werden, die das kleine, gemauerte Tor zum Gehöft bewachten, nach Prüfung meiner Papiere zackig salutierten und den Weg aufs Gelände freigaben.

All dies wand ich im Kopf hin und her, bis mich die Sonne jenes Tages endgültig verlassen hatte und kein Gramm leichter an Gedanken und Erwartungen suchte ich schließlich meinen Weg zurück ins Haupthaus, wo ich Walter im ehemaligen Wirtschaftsraum antraf, den Kopf im Inneren eines neuinstallierten Gastanks versenkt. Auch nach meiner Ankunft hatte er keine Sekunde damit vertan, meine brennende Neugier zu befriedigen. Da es mir nicht gelang sein geschäftiges Schweigen zu durchbrechen, entschloss ich mich dazu, weiter aus dem Fenster in die nun einsetzende Dunkelheit zu starren, bis ich einer Kolonne kleiner weißer Lichter gewahr wurde, die in Zweierreihen den Zuweg zu unserem Gebäude hinaufsteuerten. Im Lichte eines halben Dutzend neuer Straßenlaternen stiegen drei Männer aus den Wagen, in denen ich treffender Weise meine neuen Kollegen zu erkennen glaubte.

Leutnant Hans-Georg Wilhelm Paul von Höxter-Lüchtringen betrat als Erster die Empfangshalle. Ein kleiner, feingliedriger Mann, der seiner fliehenden und zusehends kahlen Stirn eine Ballonmütze verordnet hatte, als Schutz vor der Witterung und verletzenden Blicken. Ohne jeden Zweifel hätte er als ausgezeichneter Pilot gelten können – Einsätze an zahlreichen Frontabschnitten unterstrichen dies. Zuletzt hatte er in Ypern Dienst getan, wo er als Aufklärungsflieger über den feindlichen Linien kreiste, unter heroischer Verachtung des eigenen Lebens und der zahllosen Gefahren, die ein solcher Einsatz mit sich brachte. Bedauernswerterweise verfolgte von Höxter-Lüchtringen – wie die meisten Männer seiner Familie – ein für Piloten in besonderem Maße hinderlicher, ja geradezu bedrohlicher Hang zum Sherry. Der Leutnant geriet zunehmend in Erklärungsnöte und wurde schlussendlich in Folge eines nicht näher erläuterten Unfalls zum Testpiloten an der Heimatfront degradiert.

Deutlich über den Kopf von Höxter-Lüchtringens hinweg ragend, stierte Karl Tappen in den Raum. In seinen dicken, schartigen Brillengläsern spiegelten sich die Flammen zahlreicher kleiner Gaslampen, die Walter in den vorherigen Wochen bereits im Haus hatte installieren lassen. Tappen verdankte seine Versetzung nach Wahn einem verwandtschaftlichen Band zur einer Person der oberen Heeresleitung. Bereits am Tage nach Kriegsbeginn hatte er sich zum Dienst an der Waffe verpflichten lassen. Geradezu nervös, durch seine nachlässige Trödelei nicht zum Zuge zu kommen, drängte er durch die Ausbildung, bis die neu ausgehändigte Pickelhaube seinem überhitzten Haupt ein wenig Kühlung verschaffte. Demoralisiert und verzweifelt offenbarte sich Karl jedoch nur wenige Monate später besagtem Verwandten in einem privaten Schreiben, in welchem ihn ein Destillat schrecklichster Fronterlebnisse zu der Bitte veranlasste, das Heer vorzeitig und ohne weiteres Engagement verlassen zu dürfen.  In der Tat erwirkte Karl eine Zwangsversetzung zurück in die Heimat, wo ihm nun gestattet wurde, seine Erfahrungen als ehemaliger Leiter einer untergeordneten Forschungsabteilung innerhalb eines großen Darmstädter Pharmaunternehmens unserer Unternehmung beizusteuern.

Als Letzter und mit gehöriger Verzögerung erschien Leutnant Ernst von Rheide im Türbogen – den Effekt seines unerwarteten Auftritts in vollen Zügen genießend. Sein pomadisiertes Haar glänzte im Licht der Gaslaternen ebenso golden wie die zahllosen frisch polierten Knöpfe seiner Uniform, was von Rheide das Aussehen eines Filmstars verlieh. Ganz so als käme er frisch von der Kulisse einer Filmproduktion mit dem Titel ◊Husaren des Himmels“. Wie an späterer Stelle noch auszuführen wäre, hatte er das Studium eines Luftfahrtingenieurs durchlaufen, welches im vergangenen Jahr an der Universität von Kiel ein erfolgreiches Ende gefunden hatte. Ernst entstammte einem südschleswigschen Adelsgeschlecht, dem aus den historischen Verteilungskämpfen im norddeutsch-dänischen Grenzgebiet jedoch lediglich Brotkrumen ihres einstigen Grund und Bodens geblieben war. Eine tragische Familiengeschichte, deren vorläufigen Endpunkt Ernst als zwölftes und letztes Kind und Bruder unter elf Schwestern darstellte. Mit einer lässigen Handbewegung knöpfte er seinen Kragen auf und begrüßte die neuen Kollegen per Handschlag.