Bereit? In der ewigkeit sind Pausen leider nur einen Wimpernschlag lang. Der Nachteil ewigen Lebens, über den selten jemand spricht.
Wir befinden uns zurück in Offenbach. Bitte beschreiben Sie ausführlich Ihre Rückkehr in die Hessischen Acetylenwerke. Konnten Sie an Ihren ursprünglichen Alltag anknüpfen?
Man kann von schweren Zeit sprechen, in denen sich Werk und Mensch nach dem Krieg befanden. Im wahrsten und tiefsten Sinne des Wortes. Alles war mir zäh, langsam und auf unbestimmte Weise träge geworden nach der benannten Rückkehr ins Offenbacher Werk. Walter und ich selbst blieben unverändert distanziert und nur selten brachte einer von uns mehr als ein trockenes Wort über die Lippen. Ich sah mich noch immer gekränkt durch Walters ganz intolerables Verhalten meinem Vater und der ganzen Truppe gegenüber. Und die bleierne Stimmung in der Fabrik trug nicht zu einer Besserung bei. An manchen Tagen, an denen die Wolken bis tief in die Schornsteine hinein krochen, erschienen mir unsere Hallen und Flure wie mit Beton ausgegossen. So sehr drückte es mich nieder, wenn ich gemeinsam mit den Kollegen meinen Dienst verrichtete – und noch mehr an jenen Tagen, an denen ich allein im Labor grübelte.
In Wahn war es mir gelungen, jeden Gedanken an eine mögliche Rückkehr in mein altes Leben ganz aus meinem Kopf zu verbannen. Geradezu widernatürlich und gänzlich falsch erschien mir dann auch die eigene Fügung ins Getriebe unserer Werksproduktion als es entgegen aller Prognosen doch dazu kam. Ganz, als wäre ich mein eigener, aus dunklem Papier geschnittener Zwilling, wandelte ich durch die Tage und fühlte mich wie in einer anderen Welt, die bis aufs letzte Atom der unseren glich, in der jedoch jeder kleinste Gegenstand die Seele eines Fremden beherbergte.
Ich befand mich zwischen Menschen, die, ungeachtet eigener Verdienste, als Produkt und Spielball ihres eigenen Schicksals den Weg zurück in die Heimat gefunden hatten. Es waren nicht viele. Drei meiner vormals acht jungen Kollegen waren nun bemüht, den Betrieb so gut es eben ging aufrecht zu erhalten. Hinter mir im Unterricht, der gegen alle Widrigkeiten aufrechterhalten wurde, saß nun Kollege Hasso Bellmer auf der Bank und quietschte mit seinen neuen, eingefetteten Lederriemen über die hölzerne Sitzfläche. Ihm hatte man einen Unterschenkel abgenommen, so dass er einem Piraten gleich durch die Gänge klapperte. Selbstverständlich wurde er von den Reinigungen der Becken freigestellt, was uns unglücklichen Anderen umso mehr Arbeit einbrachte, sobald wir den Unterricht Walters verließen.
Man kann sagen, dass sich im Grunde wenig geändert hatte. Es waren doch immer wieder dieselben Tätigkeiten, die ich erinnere unseren Alltag geprägt zu haben: Putzen, Lernen, Produzieren. Unsichtbares in Flaschen abfüllen. Wieder und wieder.
Die Auftragsbücher der HAW waren prall gefüllt, nachdem der Krieg für uns so schrecklich ausgegangen war. Im ersten Moment verwunderlich, erschließt sich dieser Umstand bei genauerem Hinsehen: In jenen Monaten war zu beobachten, wie die halbe Heimat demontiert und in seine Einzelteile zerlegt, in einem Nachbarland, gleich ob in Frankreich oder in England, einer neuen Nutzung zugeführt werden sollte. Kurz, es wurde viel geschweißt, ob Panzer, Schiffe, Bahngleise. Überall brauchte es Sauerstoff und Acetylen, das wir nach Kräften in unserer desolaten Verfassung uns bemühten in gewünschten Mengen zu produzieren.
So schob ich Sonderschicht nach Sonderschicht in verschiedensten Belegschaften und auch häufig mit Walter, da auch er sich dem Produktionsdruck letztlich nicht entziehen konnte und für die niederen Verrichtungen zu Verfügung zu stehen hatte. So kam es, dass wir uns Schritt um Schritt wieder einander näherten, auch wenn unter diesen Verhältnissen doch keine Zeit blieb, um unsere Forschungen aus Wahn weiter zu betreiben oder auch nur ausgedehnt darüber zu beraten.
Im Unterricht hingegen war Walter ganz beseelt von unserer Entdeckung jener letzten Forschungstage. Zwar sprach er niemals direkt von fliegenden Tieren oder Menschen. Es war jedoch ein Leichtes zu erkennen, wie tief ihn der Rausch gepackt hatte, einen ganz neuen Pfad der Wissenschaft als erster Kundschafter zu betreten und damit eine ihm eigene, ihm zu widmende Schneise ins Dickicht der Unkenntnis der Menschheit zu schlagen. Jedes seiner Worte zur sozio-chemischen Gesellschaft glühte förmlich, als wollten all seine Ideen und Gedanken gleichzeitig durch einen dünnen Draht zu den wenigen verbliebenen Studenten gelangen – ungeachtet des Umstandes, dass in unserem kleine Kreis niemand außer meiner Person die Faszination seiner Ausführungen zu würdigen gewusst hätte. Wenn er in diesen Momenten über seinen neuen Menschen, den sozio-chemischen Strohbrück-Menschen, sprach, sah ich uns nicht mehr in einem grün lackierten Ausbildungssaal eines mitteldeutschen Chemiefabrikanten, sondern in einer neuen Kirche, einem heiligen Ort, an dem ein vom Gott der Chemie erwählter Hohepriester seine neuartigen Riten vollzog.