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Ohne es selbst zu bemerken, hatte eine ältere Frau ganz aufgehört zu schlafen. Sie arbeitete statt dessen in einem Kiosk am Hauptbahnhof. In zumeist ereignislosen Nächten nahm sie die täglichen Zeitungslieferungen entgegen, füllte Kühlschränke auf und bugsierte Menschen wieder vor die Tür, die in ihrem Laden ziellos umherblickend einen Gesprächspartner suchten, da sie den Kiosk von außen mit einer Kneipe verwechselt hatten. Früh morgens, nachdem der erste Schwung Berufspendler wieder in die U-Bahnen verschwunden war, übergab die Frau den Laden an einen Kollegen, einen jungen Studenten, der unverzüglich begann die Kasse zu prüfen. Sie selbst ging heim, legte sich auf die Couch und zog sich eine orangene Wolldecke über den Kopf. Sobald sie lag und die Decke wie der Schieber eines Magic Boards über ihren Kopf geglitten war, konnte sie die Geschehnisse der letzten Stunden nicht mehr erinnern. Sie war dann der Meinung, gerade eben auf dem Sofa erwacht zu sein, auf dem sie schon wieder während eines Actionfilms um ungefähr halb elf eingenickt und in einen tiefen, traumlosen Schlaf geglitten war.

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Woran sie sich erinnert, ist der Schrank. Jede Nacht im Traum beobachtet sie, wie sie den Schrank zur Seite schiebt und die, sich dort an der Wand befindliche, verborgene Tür freilegt und öffnet. Dann tritt sie in den dahinter liegenden Raum und schließt die Tür. Von der Mitte des Zimmers aus sieht sie sich in diesem Raum verschwinden und die Tür schließen, so dass sie sich selbst nicht folgen kann.

Wenn sie morgens erwacht, erinnert sie weder die Tür, noch das Schieben oder das Betreten. Nur den Schrank. Sie käme nie auf den Gedanken, die Wand dahinter zu untersuchen, weshalb ihr die dort befindliche Tür verborgen bleibt. So verhält es sich auch mit dem benachbarten Raum, in den sie noch nie eine Blick geworfen hat und der sich ihr trotz ständiger Anwesenheit entzieht.

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Eine Frau, die in einer Hütte direkt am Strand lebte, wunderte sich zunehmend über ihr eigenes Zeitgefühl. Denn obwohl sie jeden Morgen in gleicher Art erholt und frisch erwachte, stand die Sonne, wenn sie morgens das erste Mal aus dem Fenster blickte, nie an derselben Stelle. Ihr Körper vermittelte ihr den Eindruck größter Regelmäßigkeit – die Sonne jedoch verwirrte sie, da sie mal im Aufstieg befindlich war am linken Rand der Bucht, mal im Zenit mittig über zahlreichen kleinen Schiffen, die kaum merklich auf der dünnen Linie des Horizonts entlang trieben, und mal fortgeschritten, bereits fast die Spitzen jener hohen Kiefern berührte, die Richtung Westen bis an den Strand heran gewachsen waren.

Jeden Abend ging sie zu Bett, sobald die Dunkelheit einen bestimmten, altrosafarbenen Findling verschluckte, der am Ende einer Steinmole vor ihrem Haus aus dem Wasser ragte und eine hellgraue Möwe, die sich hier gern ihr Lager zur Nacht bereitete, nicht mehr zu erkennen war, gegenüber dem dunklen Muster der Wellen. Dann zog sie den Vorhang aus grober Wolle zu und legte sich schlafen in ihrer Kammer, auf einer Matratze, die mit Seegras gepolstert war, zur Wand hingedreht, auf der linken Seite liegend.

Diese Rituale hatte sie sich geschaffen, um die Ängste in Zaum zu halten, mit denen sie aufgrund ihres abgeschiedenen Lebens zu kämpfen hatte. Kam die Nacht, so rückten die Wände in ihrer Hütte näher, als wollten sie ihr mit unsichtbaren Händen ein Kissen aufs Gesicht legen. Die von ihr wahrgenommenen Unstimmigkeiten steigerten dieses Gefühl der Bedrohung noch, da sie ihre Rituale störten und deren Wirkung untergruben.

Sie handelte wie folgt: In den Boden eines geflochtenen Eimers, der innen mit Teer abgedichtet war, bohrte sie ein kleines Loch und befestigte ihn, mit Wasser gefüllt, über einem zweiten Eimer gleicher Art. Über Nacht tropfe nun das Wasser gleichmäßig in den unteren Eimer, wo es sich sammelte und morgens in stets der gleichen Menge vorhanden war, wenn die Frau erwachte und fortan darin bestätigt wurde, dass ihr Schlaf entsprechend ihres Gefühls regelmäßig war.

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Jeden Morgen, wenn die Mutter erwachte, war sie eine ganz andere. Sie selbst bemerkte das nicht, da sie sich jeden Tag als die, die sie nun war, in einem Kontinuum zwischen Gestern und Morgen wähnte. Sie dachte, dass es nur sie gäbe und nicht noch tausende andere mit denen sie sich für jeweils einen Tag und unwiederholbar einen Körper teilte. Ihre Familie hingegen bemerkte dies sehr wohl. Daher schufen sie aus dem täglichen, gemeinsamen Abendbrot ein Ritual, zu dem sie stets diese Fremde an ihren Tisch luden, die sich selbst ihrer Fremdheit gar nicht bewusst war. Sie wurde bekocht und in Gespräche verwickelt und durfte aus ihrem Leben erzählen, ihren Plänen und auch von Dingen die sie belasteten und verfolgten. War das Essen beendet und alle bereit sich schlafen zu legen, waren die Verwandten entweder froh, dass der Tag vorbei war und sie sicher sein konnten diesen Menschen nie wieder sehen zu müssen, oder sie waren wehmütig, da sie schon jetzt wussten, dass sie die Person vermissen würden, mit der sie einen schönen Abend verbracht hatten. Wenn es ganz schlimm war und sie die neue Frau gar nicht gehen lassen wollten, dann führten sie ihren Gast vor eine Wand, um ein gemeinsames Foto zu machen. So gibt es im Haus dieser Familie ein Zimmer, in das die Fremde nie hineingelangt, da es vor ihr verschlossen wird, und in dem die Familienportraits an den Wänden hängen, die jeden der glücklichen Tage zeigen, die man gern wiederholt hätte.