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Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, sondern nur den Hinweis, dass alles aus praktischer Notwendigkeit und zur Steigerung der Dramatik in eine Reihenfolge gebracht wurde. Die Geschichten für sich sind in ständiger Wiederholung gedacht. Jeder geschilderte Schlaf- und Wachzustand ist eine in sich selbst zurück führende Schleife, aus der es kein Entkommen gibt, außer dem unbewussten Übergang zwischen den Zuständen, der einer Zahlenfolge gleicht, die nicht zuende geführt werden kann – nicht, weil sie kein Ende hat, sondern weil das Ende nie erreicht wird.

Berlin, 28.2.2020

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Ihr erster Blick in die Straße, nachdem das Bewusstsein gekommen war, vermittelte ihr, dass etwas geschah, aber nicht warum und wie und wie es begann und sich fortsetzte wenn es aus ihrem Sichtfeld verschwand. Sie sah Menschen die miteinander sprachen, Dinge austauschten, sich an Wänden emporschwangen, auf Geräte kletterten, in Geräte hinein griffen. Menschen gingen, schlichen, fielen von einer Seite zur anderen, blieben liegen, gingen weiter. Sie verschluckten Dinge, banden sich Dinge an den Körper und steckten sie in andere Dinge hinein. Sie blickten aus Öffnungen heraus und gingen in Öffnungen hinein, verschwanden in ihnen halb oder ganz. Sie kamen zurück oder blieben ganz fort. Dies alles war kein Tanz, aber es folgte einen Rhythmus und einer Kontinuität, die sie bewegte, einen Fuß zu heben und sich im Flirren der Straße selbst einen Pfad zu suchen, auf dem sie einen Fuß vor den anderen setzte und langsam, langsam, langsam den Blick verschob, zu jeder Seite, um auf- sowie abwärts die Straße zu sondieren. Ihre Position verändernd, sah sie Menschen, die sich zuvor ihrem Blick entzogen hatten, aus Winkeln, die ihrem Blick zuvor versperrt gewesen waren. Andere Menschen verschwanden, wandten sich ab, wurden halb oder ganz aus dem Sichtfeld geschoben. Sie sah Körper, die ihrem eigenen entsprachen und ihr zu erzählen schienen, in tausend Varianten, wozu dieser Körper im Stande sein kann, wie man ihn zu nutzen hätte, und der erste Vorschlag, den sie übernahm war jener sich wiederholende Schritt nach vorn.

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Ein Mann wandelte nachts, wenn er schlief, auf eine Kreuzung in seinem norddeutschen Heimatdorf und blieb dort im Schlafanzug und ohne Schuhe stehen. Laut und im hellsten Sopran begann er eine Melodie zu singen, welche er bis zu fünf Stunden wiederholte und variierte und die, obwohl sehr stimmig in Ton und Takt, die Nachbarn zur Verzweiflung trieb. Regelmäßig kam die Polizei hinzu und stand gemeinsam mit den Anwohnern ratlos am Rande der Kreuzung, in deren Mitte der schlafende Mann lauthals sang. Sie zogen sich dann aufgrund der Lautstärke in eine Seitenstraße zurück um zu beratschlagen was zu tun sei – was nicht leicht fiel, denn jedes Mal, wenn sich jemand dem Mann näherte, etwa um ihn nach Hause zu begleiten, ihn zu wecken oder anderweitig zum Schweigen zu bringen, wand der Mann seinen Kopf in Richtung des Herantretenden und sang ihm mit solcher Kraft ins Gesicht, dass dieser von seinen Plan abließ und sich lieber wie alle anderen Einwohner schlaflos im Bett wälzte, als dem Mann noch einmal in solcher Art nahekommen zu müssen.

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Der zweidrittel Millionste Morgengrauen in Rom: Kurz nachdem er in seinem Bett erwacht war, stand er auf und ging ins Bad. Er schaltete das Deckenlicht nicht ein und bemühte sich nicht in die Dusche, denn er wusste, dass des keinen Strom gab und damit weder Licht noch warmes Wasser. Er zog die Kleidung vom Vortag an und trat auf die Straße. Blind, wie durch eine lang einstudierte Choreografie, spazierte er in weichen Bewegungen den Gehweg hinab durch Menschengruppen hindurch, über Ampeln und an Autos vorbei ohne ein einziges Mal den Schritt zu verlangsamen. Er passierte einen Obststand im Moment, in dem das Bein eines Tisches brach, auf dem Äpfel in Form einer Pyramide auslagen. In gleichmäßiger Verteilung sprang das Obst aufs Pflaster und ein Apfel rollte in seine rechte Hand, als er sie im Vorbeigehen nah an den Bordstein senkte und den Handteller öffnete.

Als er, unzähligen möglichen Ärgernissen ausgewichen, doch einmal von einem Passanten geschnitten und grob beleidigt wurde, konterte er diesen so schlagfertig, dass es seinem Gegenüber schamesrot die Sprache verschlug. Lachende und applaudierende Zeugen sowie einen perplexen Passanten ließ er zurück, als er sich wie ein Aal durch die Menge schlängelte und entfernte, ohne eine weitere Person zu berühren. Eine öffentliche Telefonzelle zu seiner Rechten klingelte. Er betrat das Häuschen und nahm den Hörer ab. Glücklicherweise konnte er nach kurzem Zuhören dem Menschen in der Leitung bei einem ernsten Problem helfen, das diesem schlimme Qualen bereitet hatte und zu dem er nun genau die richtigen, passenden Worte fand um den Leidenden aus der Krise zu führen. Nicht nur das: er fand Worte, von denen er sicher war, dass sie seinen Gegenüber erreichten, sie aufgenommen wurden und genau so verstanden wurden, wie er sie gemeint hatte.

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Ein Mann mit einem breiten Unterkiefer und weiten, roséfarbenen Hosen begann mit dem Bau eines Hauses, auf einem Grundstück, das an einer Ausfallstraße einer mittelgroßen Stadt gelegen war. In einer Ebene, in der wenig wuchs und oft die Sonne schien. Neben dem, mit einem Drahtzaun von der Umgebung abgetrennten Nachbargelände, auf dem vorproduzierte Becken für Swimmingpools ausgestellt waren – ähnlich einem Autohaus hinter den Glasscheiben einer großen Verkaufshalle und auf dem Hof drapiert. Dies war das letzte Gebäude an der Außengrenze dieses Randgebiets gewesen, bis mit dem neuen Hausbau begonnen wurde.

Allein und ganz mit sich selbst begann der Mann seine Tätigkeit an Ort und Stelle und setzte sie in den folgenden Wochen kontinuierlich fort, ohne eine einzige Pause zu machen. Er arbeitete sehr langsam, setzte Stein auf Stein, fuhr zum Baustoffhandel, kaufte Rohre und Kabel, verlegte diese, aß nebenbei, während er Zement mit der Bohrmaschine anrührte oder Isolierungen von den Litzen knipste. Er schlief häufig, jedoch nur sekundenweise und im Stehen, so wie andere Menschen blinzeln, um zwar seinen Bedarf an Ruhe zu stillen, ohne jedoch aus dem Rhythmus zu geraten in seiner langsamen, stetigen Arbeit.

Nach etwa drei Monaten, in denen er Tag und Nacht in kleinen Schritten Steine, Zement, Farbe, Kabel und Balken miteinander verbunden hatte und alles an seinem Platz war, begann er mit der Einrichtung. In kontinuierlichen Bewegungen schnitzte er sich ein Bettgestell mit vier langen Pfosten, an deren oberen Enden kleine Vögel saßen, die ihre Köpfe einander zuneigten, sich windende Würmer in den Schnäbeln, als wollten sie den Schlafenden in ihrer Mitte wie ein eigenes, frisch geschlüpftes Küken ernähren.

Dazu eine kleine Kommode, eine kleine Stehlampe und einen Teppich, den er nach alter Technik ohne Webstuhl per Hand zu knüpfen verstand. Er bildete ein Muster ineinander verschachtelter Dreiecke, das in solcher Art von den Fäden des Teppichs erzeugt wurde, dass man nicht unterscheiden konnte, ob auf dem Teppich Dreiecke zu sehen waren oder ob das Muster selbst da war, das eine Fläche bildete, die als Teppich genutzt wurde.

In diesem Zimmer, aus dem das Haus bestand, legte sich der Mann nun am Ende des letzten Tages in sein Bett, das es nun gab, nachdem er seine Hose in die kleine Kommode gelegt hatte und löschte das Licht.

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Es wurde einem Jungen unerträglich die Übergangsphasen seines Einschlafens und Erwachens nicht greifen zu können, nachdem er einen Film über die missbräuchliche Anwendung von Hypnose gesehen hatte. Ihm schien in diesen Momenten das eigene Bewusstsein zwischen den Händen zu zerrinnen und daher konditionierte er sich in folgender Weise: Wollte er schlafen, dann legte er sich das karierte Küchentuch seiner Mutter über die Augen und fixierte es dort während der gesamten Zeit seines Schlafes, bis er wieder erwachte. Er tat dies über Wochen und Monate, bis es ihm zur Gewohnheit geworden war, wie eine bestimmte Körperhaltung zum Schlafen einzunehmen oder Decke und Kissen auf eine einstudierte Art zu positionieren.

Tagsüber hing das Tuch weiterhin am Griff des Backofens, in der mit weißen Möbeln eingerichteten, weiß gekachelten Küche. Abends wurde das Tuchmuster zu einer visuellen Entsprechung jenes beruhigenden Moments aufkommender Bewusstlosigkeit, die den ersten Schritt in einen traumlosen Schlaf markiert. Ebenso wurde es zum Vorhang, durch den der Schlafende hindurch zurückkehrte, erwachend, in die sich dahinter befindliche, morgendliche Welt.

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In Nordfriesland, auf einer kleinen Hallig, bebaut mit einem einzigen Haus, lebte ein Mann, dessen Schlaf auf unergründliche Weise an den Lauf des Mondes und der Gezeiten gekoppelt war. So erwachte er immer genau dann, wenn der ihn umgebende Wasserstand gerade seinen höchsten Punkt erreicht hatte.

„Dann kann ich heute wohl nicht an Land fahren“,

dachte er mit Blick aus dem Fenster, zuckte mit den Achseln und setzte Teewasser auf. Draußen wehte der Wind und die Fensterläden klapperten.

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In einer Mappe in einer Tasche lagen Zettel, auf denen Reisen durch ein heute untergegangenes, mitteleuropäisches Reich beschrieben waren. Sie gehörten zu einem Mann jener Zeit, dem Nachts etwas sehr Ungewöhnliches widerfuhr:

Sobald die Sonne unterging, überkam ihn die Müdigkeit mit solcher Macht, dass er sich kaum wenige Minuten gegen sie wehren konnte. Wenn er wieder erwachte, befand er sich nicht mehr in dem Stuhl, in dem er zusammengesunken war oder am Rand jenes Platzes, an dem er liegen geblieben war. Er erwachte an einer vollkommen anderen Stelle. Manchmal erkannte er die Umgebung und konnte eine Verbindung herstellen zwischen beiden Orten, dem seines Einschlafens und dem des Erwachens. Häufig war ihm der Ort völlig unbekannt und erst durch Erkundigungen im Laufe des Vormittags wurde ersichtlich, welche Strecke der Mann nachts überwunden haben musste, um sich dort zu befinden wo er nun war. Teilweise waren diese Strecken deutlich länger als das, was er Nachts zu Fuß hätte überwinden können, was nicht nur bedeutete, dass er kaum schlafwandelnd diese Reisen unternahm, sondern auch, dass es ihm unmöglich war, durch eigene Anstrengungen wieder an den Ort zurückzukehren, an dem er zuletzt eingeschlafen war.Denn sobald die Sonne unterging, wurden alle nicht erreichten Reiseziele hinfällig.

In solcher Weise einer zwanghaften Wanderschaft ausgeliefert, verzweifelt und letztlich resignierend in sein Schicksal ergeben, begann er sich Orientierung und Sicherheit zurückzuerobern, indem er jene Distanzen, die er auf unerklärliche Weise zurücklegte, mit Leben füllte. Er erfand die Verläufe seiner nächtlichen Reisen mitsamt den Menschen, die er auf diesen Wegen traf, mit den Tieren die er sah, mit Städten und Landschaften die er durchschritt.

Er beschrieb die Hindernisse, die er überwand und welche Hilfe er dabei erfuhr und wo er seinerseits Unterstützung geben konnte, wo er Bestätigung erhielt und Enttäuschungen zu erleiden hatte.

Diese Reiseberichte ergänzten das Land, von dem er nur tageweise Flecken zu sehen bekam, um jene Zwischenbereiche, die er nie sah oder nie erinnerte. Er sammelte die Berichte in einer Tasche, die er sich um den Hals hängte, denn schon öfter war es ihm passiert, dass er wichtige Utensilien an seinem morgendlichen Lager nicht finden konnte, die er Nachts zuvor noch besessen hatte.

Im Laufe der Zeit begann er daher, neben seinen eigenen Reisen auch die Geschichten und Schicksale jener Objekte aufzuzeichnen, die ihm im Schlaf abhanden gekommen waren: wie er sie verliehen, gespendet oder verkauft hatte, wie sie ihm gestohlen wurden oder er sie aus Achtlosigkeit oder Pech verloren hatte. Er folgte ihnen im Geiste, um zu erfassen, wo sie sich befanden, bei wem und in welchem Zustand, und in welche Ereignisse sie verwickelt wurden. Aus diesen Beschreibungen entwickelte sich ein Katalog von Bewegungen, Verbindungen und Verhältnissen zwischen ihm selbst, Orten, Menschen und Objekten, die um ihn herum metastasierten und ein feines Netz bildeten, das sich über das ganze Land legte.

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Nach 4350 Stunden pausenlosen Lernens hat sich die Lernende, eine Frau aus den Anden Guatemalas, schlafen gelegt. Manche Menschen lernen in kleinen Einheiten. Andere schieben alles vor sich her und lernen lieber so viel wie möglich auf den letzten Drücker. Sie lernt ausschließlich ohne Fristen und äußere Bedingungen, nur für sich, an einem langen Stück.

Stößt Sie auf ein Thema, das ihr Interesse erregt, dann vollzieht sie einen inneren Moduswechsel von unvorhersehbarer Dauer: Sie beginnt zu recherchieren und sich einzulesen. Tage- und Wochenlang folgt sie ununterbrochen Onlinekursen, Wikipedia-Artikeln und Blogeinträgen, in welche sie wie in die Gänge eines unterirdischen Baus vordringt. Das Thema breitet sich vor ihr aus wie die Momentaufnahme eines in Wachs gegossenen Ameisenstaats, der nicht nur in zahllosen räumlichen Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Bedingungen zu erforschen ist, sondern dessen im stummen Modell nicht abbildbarer, geschäftiger Prozess der Summe aller am Bau beteiligten Tiere gleicht. Am Ende ihrer Recherche ist sie im Stande, jedes dieser Tiere einzeln seiner Eigenschaften und seiner Aufgabe nach zu benennen und die Entstehung des Baus, sowie seinen weiteren Verlauf nachzuvollziehen und darüber hinaus seine noch nicht gegrabenen Gänge und Hallen zwar nicht selbst zu schaffen, jedoch ihr entstehen zu prophezeien.

An diesem Punkt sieht sie, wie sich das Thema erschöpft, wie sie ermüdet und der Bann gebrochen ist. Nach einem langen Rausch durchgehenden Bewusstseins, in der sie ohne Pause und Ablenkung alle gedanklichen Fäden und Informationen im Kopf zusammengehalten hat, geht sie zu Bett.

Zuvor jedoch macht sie ein Foto von sich. Ein Portrait direkt von vorn, auf dem ihre Augenringe, der matte Blick, fahle Haut und eine sich nervös schiebende Unterlippe auf jenes Konstrukt hinweisen, das sich hinter der Stirn noch befindet und sobald sie sich schlafen legt langsam wieder auflösen wird, ganz so, als ob das Wachsmodell, gleichmäßig erwärmt seine Kontur verliert und unter seinem eigenen Gewicht zerfällt.

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Eine Frau, die als Entwicklerin für ein Carsharing-Unternehmen tätig war, schrieb im Traum Codeframente für die Reservierungssoftware, an der Sie tagsüber arbeitete. Sie entwarf und verwarf mögliche Lösungswege und ließ sie durch einen von ihr im Geiste erschaffenen Prozessor laufen. Sie kompilierte im Kopf die verschiedenen Sprachen, bis lange Ketten von Einsen und Nullen zu den untersten Windung ihres Schädels hinunter tropften und von dort wieder hinaufgelaufen kamen und sich erneut manifestierten. Wenn sie erwachte, hatte sie eine Entscheidung darüber getroffen, wie der Abschnitt strukturiert und geschrieben sein sollte. Morgens goss sie sich dann einen Kaffee auf und tippte ihre Ergebnisse ab – pro Anschlag ein Zeichen im Code, ohne eine überflüssige Bewegung. Zeile für Zeile, in routinierter Zehn-Finger-Technik, rasend schnell. Die reine Eingabe, das Setzen der Zeichen, das Speichern und Hochladen dauerte meist nicht länger als eine halbe Stunde. Danach legte sie sich auf die Couch und sah sich eine Morgensendung an, später Netflix-Serien. Im Sommer ging sie auch gern ins Freibad, legte sich dort unter einen Baum und las einen Fantasyroman.

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Ein Mann liegt auf einem Felsen und träumt, er sei ein Schwein. Flach über den Boden schiebt er seinen haarigen Bauch durch Büsche und über tote Blätter, morsches Holz und Kolonien von Pilzen an einer reich bewachsenen Stelle, nicht weit von seinem Schlafplatz entfernt. Er erkennt Bäume und Hügel in dem ihn umgebenden, unübersichtlichen und sich ständig wiederholenden Buchenwald. An einer Stelle, an der tiefe Furchen in den Boden gegraben sind, die niemals ganz austrocken und in denen zu jeder Zeit zumindest ein Rest Wasser steht, wälzt er sich und versucht die Insekten des Tages aus dem borstigen Fell zu vertreiben. Während das Schwein sich wälzt, erwacht der Mann. Er nimmt seine Keule auf und bewegt sich leise, auf ledernen Sohlen, zu jenen Furchen, die er eben noch im Traum selbst zum eigenen Wohlgenuss besucht hatte. Er sieht das Schwein sich noch wälzen, tritt heran und schlägt ihm mit der Keule den Schädel ein. Er verzehrt das Tier und fertigt sich aus seinem Fell eine Weste, dessen Kaputze aus dem oberen Teil des Wildscheinkopfes besteht, unter dem sein eigener Unterkiefer hervorschaut.

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In einem steinernen Kasten, in einer Höhle, unter einem Berg am Mittelmeer liegt ein Mann und schläft. Alle zweihundert Jahre erwacht er für einige Tage. Dann schiebt er die Platte beiseite, die seine Schlafstätte schützt und putzt sich den Staub von den Kleidern. Er verlässt den Keller, tritt unter die Sonne ins Freie und blickt in die Wolken, die keiner Erosion, keiner Rodung, Überbauung, Überflutung oder Überwucherung ausgesetzt sind und seit Millionen von Jahren in gleichen Formen variieren. Dann geht er zum Strand, unter Beobachtung aller Dinge, die um ihn herum passieren und deren Sinn er nicht immer versteht. Am Strand sucht er nach etwas, das er als Boot mit Rudern erkennt und schiebt es in einem unbeobachteten Moment ins Meer. Er rudert hinaus, schließt die Augen und lauscht der beruhigenden Gleichförmigkeit der Wellen, die ihn umgeben, die seit jeher in gleicher Form am Bootsrumpf gluckern und sich variieren in einer nicht unterscheidbaren und nicht wiederholbaren Form.

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In einer zukünftigen, sehr schnelllebigen Metropole legten sich viele Menschen, die einander wie Zwillinge waren, um 00:45 in ihre Kunststoffbetten und schliefen, wie jede Nacht, ganze vier Stunden.

Wenn sie erwachten, hatte sich die Stadt verändert: Neue Gebäude und Straßen waren entstanden und neue Ereignisse hatten stattgefunden, die sich zu neuen Redensarten, neuen Moden und neuen Verhaltensregeln weiterentwickelt hatten. Es war unmöglich, diese Entwicklungen innerhalb der verbleibenden zwanzig Stunden des folgenden Tages nachzuvollziehen um das Gestern mit dem Heute in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.

Die fehlenden Verknüpfungen förderten sehr komplexe Erklärungsversuche unter jenen Menschen, die zur selben Zeit diese Geschehnisse verpasst hatten. Im verzweifelten Bestreben, sich zu erklären, warum andere ihre Haare auf eine bestimmte Art trugen, fanden sie um 22:30 ein nachvollziehbares Muster darin, dass all jene, die heute mit dieser neue Frisur gesehen wurden, gestern eine Flasche Wasser gekauft hatten, sowie drei Stationen im Uhrzeigersinn durch das selbe Viertel mit der gestern dort noch vorhandenen U-Bahn gefahren waren.

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Ein Frau in einem grauen Tweet-Anzug konstruierte auf ihrem Hof in einer Scheune eine Maschine. Sie bestand aus zwei mechanischen Beinen, die durch eine kupferne Schale miteinander verbunden waren, mit Decken und Kissen ausstaffiert und von einer Glaskuppel geschützt gegen Wind und Nässe. Von dieser automatischen Sänfte ließ die Frau sich fortan durchs Land tragen. Das Schunkeln der, über unbefestigte Straßen mit beiden Beinen taumelnden Maschine wurde ihr dabei zur Gewohnheit – so wie ein Seemann, auf festem Grund stehend, eine merkwürdige Leere verspürt. Wenn sie nach langer Reise aus ihrer Maschine stieg, glaubte sie kurz den Tod zu streifen, im ersten Moment des Stillstandes, wenn sie in sich hineinfühlte und ihre eigene Trägheit dort spürte und keine weitere Bewegung, sondern nur die ganze Masse der unbeweglichen Erde unter ihren Socken.

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Im Garten eines Hauses, das in einer Reihe ähnlicher Häuser in einer Vorortsiedlung einer anderen, größeren Stadt lag, kniete jeden Abend ein Mann mittleren Alters vor einer großen Tanne. Er bemühte sich, seinen Kopf in ein Loch zu pressen, das sich zwischen den Wurzeln des Baumes auftat und das von innen mit getrockneten Tannennadeln weich gepolstert war. Mit sanften, verstörten Bewegungen drückte und schob der Mann seinen Kopf entlang der Wurzeln, die den Eingang des Lochs fest umspannten. Teils stundenlang probierte er sich an der glattgeriebenen, geflochtenen Struktur und drehte seine Schultern hin und her, als wäre es eine Frage der Körperhaltung, seinen Kopf in das Loch zu bekommen.

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In einem Labyrinth mit Wänden aus grün-weiß durchwachsenen Marmorplatten und einem Boden aus grauem Plastik läuft jemand im Traum umher, der ständig ein anderer ist. Erwacht die Person, die gerade noch mit den Händen die glatten, gemusterten Wände entlangstrich, nimmt ein anderer ihren Platz ein. Etwa ein Nachtwächter, der erst in der Früh zu Bett geht oder ein Menschen auf der ganz anderen Seite der Erde, wo gerade die Sonne untergegangen ist. So durchqueren viele Menschen diese Gänge, betrachten sie und prägen sich die Wellen und Knoten des Gesteins ein und den immer gleichen, anthrazitfarbenen Boden, der sich an jeder Stelle gegenüber dem Muster der Wände behauptet.

Wenn sich zwei Menschen treffen, in Barcelona in einem Kaffee, in Mali auf der Suche nach einem Schatz, in Tokyo am Flughafen, dann könnten sie sich gegenseitig fragen, ob sie dieses Labyrinth kennen und es gäbe Situationen in denen sich beide über bestimmte Eigenheiten der Wände unterhalten könnten und deren Verhältnis zum immer gleichen Fußboden.

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Eine Frau hatte immer den gleichen Traum: Sie steckte im Körper einer Busfahrerin in einer fremden Stadt. Nächtelang steuerte sie ihren Linienbus durch die taghell erleuchteten und hoffnungslos verstopften, langen Straßenzüge, vorbei an Haltestellen, Ampeln und Unfällen. Per Mikrofon maßregelte sie Fahrgäste, die sich quer auf die Bänke legten, mit ihren Taschen Sitze blockierten oder andere belästigten. Sie wartete auf alte Menschen, die zur Bushaltestelle liefen und half ihnen in den Bus. Sie stöhnte, wenn man ihr die Vorfahrt nahm, betätigte ärgerlich die Lichthupe und schnitt ihrerseits zu langsame und unsichere Autofahrer, die meist von außerhalb kamen und voller Widerwillen in den Innenstadtbereich gefahren waren.

Dies alles erlebte sie aus dem Körper der Busfahrerin, mit der sie trotz einer unwillkürlichen Distanz, die sie spürte, eine tiefe Selbstverständlichkeit verband, hier ihre Nächte am richtigen Fleck zu verbringen. Wenn Sie im zähen Verkehr durch das leichte Tippen des Gaspedals meterweise voran rollten oder wenn sie ihre Pausen am Ende der Buslinie im grünen Randgebiet der Stadt verbrachten, wo niemand je hinfindet, außer den Kollegen und vielleicht mal einem Betrunkenen, der im Bus eingeschlafen war und den die Fahrerin sich weigert zu wecken – in diesen Momenten fühlte sie sich mit der Busfahrerin allein und beinahe als Teil einer intimen Gemeinschaft. Dann hing sie ihren Gedanken nach, gemeinsam mit ihr im selben Kopf, ohne jedoch einander zu berühren und deshalb zweifelnd, ob die Verbindung auf Gegenseitigkeit beruhte.

Denn so, wie der Frau immer wieder Einblicke ins Gefühlsleben und die Gedanken der Busfahrerin gewährt wurden, die sie rührten und sie gleichermaßen auf sie herabblicken ließen, so hatte sie nie den Eindruck, andererseits von der Busfahrerin in gleicher Weise beobachtet zu werden. Es gelangen ihr nicht zu unterscheiden, ob sie wirklich ein stiller Gast im Kopf einer anderen war, die gar nicht wusste, dass sie jede Nacht besucht wurde. Oder, dass sie schlicht ignoriert wurde, wie fast alle Fahrgäste ignoriert wurden, die keiner gesonderten Hilfe bedurften.

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Ohne es selbst zu bemerken, hatte eine ältere Frau ganz aufgehört zu schlafen. Sie arbeitete statt dessen in einem Kiosk am Hauptbahnhof. In zumeist ereignislosen Nächten nahm sie die täglichen Zeitungslieferungen entgegen, füllte Kühlschränke auf und bugsierte Menschen wieder vor die Tür, die in ihrem Laden ziellos umherblickend einen Gesprächspartner suchten, da sie den Kiosk von außen mit einer Kneipe verwechselt hatten. Früh morgens, nachdem der erste Schwung Berufspendler wieder in die U-Bahnen verschwunden war, übergab die Frau den Laden an einen Kollegen, einen jungen Studenten, der unverzüglich begann die Kasse zu prüfen. Sie selbst ging heim, legte sich auf die Couch und zog sich eine orangene Wolldecke über den Kopf. Sobald sie lag und die Decke wie der Schieber eines Magic Boards über ihren Kopf geglitten war, konnte sie die Geschehnisse der letzten Stunden nicht mehr erinnern. Sie war dann der Meinung, gerade eben auf dem Sofa erwacht zu sein, auf dem sie schon wieder während eines Actionfilms um ungefähr halb elf eingenickt und in einen tiefen, traumlosen Schlaf geglitten war.

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Woran sie sich erinnert, ist der Schrank. Jede Nacht im Traum beobachtet sie, wie sie den Schrank zur Seite schiebt und die, sich dort an der Wand befindliche, verborgene Tür freilegt und öffnet. Dann tritt sie in den dahinter liegenden Raum und schließt die Tür. Von der Mitte des Zimmers aus sieht sie sich in diesem Raum verschwinden und die Tür schließen, so dass sie sich selbst nicht folgen kann.

Wenn sie morgens erwacht, erinnert sie weder die Tür, noch das Schieben oder das Betreten. Nur den Schrank. Sie käme nie auf den Gedanken, die Wand dahinter zu untersuchen, weshalb ihr die dort befindliche Tür verborgen bleibt. So verhält es sich auch mit dem benachbarten Raum, in den sie noch nie eine Blick geworfen hat und der sich ihr trotz ständiger Anwesenheit entzieht.

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Eine Frau, die in einer Hütte direkt am Strand lebte, wunderte sich zunehmend über ihr eigenes Zeitgefühl. Denn obwohl sie jeden Morgen in gleicher Art erholt und frisch erwachte, stand die Sonne, wenn sie morgens das erste Mal aus dem Fenster blickte, nie an derselben Stelle. Ihr Körper vermittelte ihr den Eindruck größter Regelmäßigkeit – die Sonne jedoch verwirrte sie, da sie mal im Aufstieg befindlich war am linken Rand der Bucht, mal im Zenit mittig über zahlreichen kleinen Schiffen, die kaum merklich auf der dünnen Linie des Horizonts entlang trieben, und mal fortgeschritten, bereits fast die Spitzen jener hohen Kiefern berührte, die Richtung Westen bis an den Strand heran gewachsen waren.

Jeden Abend ging sie zu Bett, sobald die Dunkelheit einen bestimmten, altrosafarbenen Findling verschluckte, der am Ende einer Steinmole vor ihrem Haus aus dem Wasser ragte und eine hellgraue Möwe, die sich hier gern ihr Lager zur Nacht bereitete, nicht mehr zu erkennen war, gegenüber dem dunklen Muster der Wellen. Dann zog sie den Vorhang aus grober Wolle zu und legte sich schlafen in ihrer Kammer, auf einer Matratze, die mit Seegras gepolstert war, zur Wand hingedreht, auf der linken Seite liegend.

Diese Rituale hatte sie sich geschaffen, um die Ängste in Zaum zu halten, mit denen sie aufgrund ihres abgeschiedenen Lebens zu kämpfen hatte. Kam die Nacht, so rückten die Wände in ihrer Hütte näher, als wollten sie ihr mit unsichtbaren Händen ein Kissen aufs Gesicht legen. Die von ihr wahrgenommenen Unstimmigkeiten steigerten dieses Gefühl der Bedrohung noch, da sie ihre Rituale störten und deren Wirkung untergruben.

Sie handelte wie folgt: In den Boden eines geflochtenen Eimers, der innen mit Teer abgedichtet war, bohrte sie ein kleines Loch und befestigte ihn, mit Wasser gefüllt, über einem zweiten Eimer gleicher Art. Über Nacht tropfe nun das Wasser gleichmäßig in den unteren Eimer, wo es sich sammelte und morgens in stets der gleichen Menge vorhanden war, wenn die Frau erwachte und fortan darin bestätigt wurde, dass ihr Schlaf entsprechend ihres Gefühls regelmäßig war.

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Jeden Morgen, wenn die Mutter erwachte, war sie eine ganz andere. Sie selbst bemerkte das nicht, da sie sich jeden Tag als die, die sie nun war, in einem Kontinuum zwischen Gestern und Morgen wähnte. Sie dachte, dass es nur sie gäbe und nicht noch tausende andere mit denen sie sich für jeweils einen Tag und unwiederholbar einen Körper teilte. Ihre Familie hingegen bemerkte dies sehr wohl. Daher schufen sie aus dem täglichen, gemeinsamen Abendbrot ein Ritual, zu dem sie stets diese Fremde an ihren Tisch luden, die sich selbst ihrer Fremdheit gar nicht bewusst war. Sie wurde bekocht und in Gespräche verwickelt und durfte aus ihrem Leben erzählen, ihren Plänen und auch von Dingen die sie belasteten und verfolgten. War das Essen beendet und alle bereit sich schlafen zu legen, waren die Verwandten entweder froh, dass der Tag vorbei war und sie sicher sein konnten diesen Menschen nie wieder sehen zu müssen, oder sie waren wehmütig, da sie schon jetzt wussten, dass sie die Person vermissen würden, mit der sie einen schönen Abend verbracht hatten. Wenn es ganz schlimm war und sie die neue Frau gar nicht gehen lassen wollten, dann führten sie ihren Gast vor eine Wand, um ein gemeinsames Foto zu machen. So gibt es im Haus dieser Familie ein Zimmer, in das die Fremde nie hineingelangt, da es vor ihr verschlossen wird, und in dem die Familienportraits an den Wänden hängen, die jeden der glücklichen Tage zeigen, die man gern wiederholt hätte.

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Ein Mann hatte jede Nacht den selben Traum, an den er sich auch immer wieder erinnerte und zu dem er gern zurückgekehrte, weil er ihn barg: Er fand sich auf einer Straße in Mitteldeutschland wieder, neben einer Bahntrasse und einer Tankstelle, die er nacheinander erkundete.

Er lief die Auffahrt hinauf zur Tankstelle und betrat das kleine Gebäude hinter den Zapfsäulen. Um nicht ziellos im Laden herumzustehen, wählte er aus der Kühlschrankzeile eine Dose Lipton Icetea und ging zur Kasse. Die Servicekraft weigerte sich jedoch, ihm die Dose zu verkaufen und nuschelte eine Begründung, die er nicht verstand. Von Scham gepackt verließ er das Tankstellenhäuschen und lief die Auffahrt hinab zurück zur Straße.

Die Bahntrasse, auf einem Wall gelegen, war in Bewegungslosigkeit erstarrt. Eine unerträgliche Ruhe kroch aus der Umgebung in sein Inneres, wenn er auf den Gleisen verharrte, da es nichts gab, was eine Verbindung zwischen ihm und dem Ort knüpfte und was seinen Aufenthalt berechtigte – Weder wartete er auf einen Zug, noch wollte er sich auf die Gleise stürzen, noch hatte er beruflich mit der Instandhaltung des Streckenabschnitts zu tun. Er und der Raum waren voneinander isolierte Einheiten. Nur fühlte er sich als Mensch zu diesem von Menschen gemachten Ort hingezogen und spürte seine eigene Verletzlichkeit, da diese Anziehung nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.

Hinter der Tankstelle befand sich ein Hochhaus, außen braun gemauert und schmutzig, innen mit hellgrünem Linoleum ausgelegt. Im Treppenhaus zog es ihn wie von selbst am grauen Handlauf hinauf. So gut lag die dunkle Plastikschiene in der Hand, dass er kaum bemerkte, wie er bis in den neunten Stock beinahe hinaufgeflogen war.

Dort im Flur stehend, fühlte er einen Schlüssel in der Jackentasche, der in das Schloss einer der Wohnungen auf dem Gang passte. Er öffnete die Tür und trat hinein in die dunkle, unmöblierte Wohnung.

Auf der anderen Seite des Wohnzimmers erwartete ihn ein großes, muskulöses Wesen mit vier Armen und langen Zähnen. Umgehend verwickelte es ihn in einen Kampf, in dessen Verlauf er jedoch nicht verletzt wurde, sondern immer wieder von den Wänden abprallte wenn er geworfen wurde. Er realisierte, dass es nicht schlimm war, dass er sich nicht gegen dieses Wesen wehren konnte und ergab sich ihm wie ein Gummiball. Nach einiger Zeit, die er sich gleichmütig der stumpfen Brutalität des Monsters ausgesetzt hatte, gelang es ihm, sich an die Wohnungstür zu klammern, sich durch diese hindurch auf den Flur zu drücken und das vierarmige Wesen in der Wohnung zurückzulassen. Auf dem Weg die Treppen hinab erwachte er – mal früher, mal später – aber immer bevor er das Treppenhaus im Erdgeschoss verlassen konnte.

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In einer mitteldeutschen Kleinstadt stand ein einzelnes hohes Haus aus braunen Klinkern. Die Wohnungen waren so versetzt angeordnet, dass sich auf jeder Seite in unterschiedlichen Stockwerken Balkone befanden, die mit gelben Markisen ausgestattet waren. In einer Wohnung im neunten Stock, im Wohnzimmer, stand auf einem beigen Teppich ein Röhrenfernseher, an den eine NES Konsole angeschlossen war. In der Konsole steckte eine Mortal Combat II Cartridge. Sonst war die Wohnung leer. Niemand wohnte hier.

Jeden Abend, nachdem die Sonne rot auf die Wände und in die rechtwinkligen Ecken der Wohnung gefallen war, schloss ein Mann die Tür auf und ein kurzer Streifen gelben  Flurlichts fuhr über die Wände, bevor sich die Tür hinter ihm schloss. Der Mann schaltete im Dunkeln den Fernseher an sowie die Konsole und spielte bis zum Morgengrauen. Bevor die Sonne aufging, wenn der Himmel vor dem Fenster einen düsteren, blauen Ton annahm, schaltete der Mann die Geräte aus und verließ die Wohnung, die nun über den Tag hinweg bis aufs letzte Staubkorn in genau jenen Zustand zurückfiel, in dem sie der Mann abends vorgefunden hatte und wieder vorfinden würde.

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Ein Mann verbrachte seine Tage damit, am Rand einer Halle zu stehen, die mit Fackeln beleuchtet war. In der Mitte des Raumes befand sich ein roter Teppich, was die Halle einem Thronsaal ähneln ließ und ihm eine klare räumliche Ordnung nach links und nach rechts gab. Auf dem Teppich bewegten sich zwei Gestalten vor und zurück: Ein maskierter Mann mitte vierzig, muskulöse Statur, grausames Lächeln, Sonnenbrille; und ein ockerfarbenes Weltraummonster, grob, ebenfalls muskulös, mit einem kleinen Pferdeschwanz am Hinterkopf und vier Armen. Wechselseitig fügten sich beide Wesen in ihren Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen teils grausame Verletzungen zu, ohne den Kampf je zu unterbrechen oder erkennbar zu leiden. Der gerade Schlagende äußerte dabei einen von drei Kampflauten, ergänzt von einem immer gleichen Geräusch des Aufpralls und einem Stöhnen des Geschlagenen, so dass eine, sich ständig variierende Abfolge von zehn unterschiedlichen Geräuschen das Geschehen begleitete.

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Zwei Männer sitzen in einem Raum, ein Glastisch zwischen ihnen. Dessen Beine bilden halb-ovale, matte Alustangen, die an ihrer spitzen Seite eine Nut haben, in die weitere Tischbeine oder Aktenschränke durch ein Verbindungsteil eingeklemmt werden können. Fensterseitig sitzt ein Mann, sehr dick, in einem braunen Anzug. Die Oberschenkel zerren am Stoff der Hose. Neben dem Fenster, das zu einer Schnellstraße hin liegt, hängt ein großes Gemälde. Eine Bauernszene. Frauen in Röcken umarmen Strohgarben, richten sie auf und tragen sie zu einem Wagen, der im goldenen Schnitt des Bildes steht.

Gegenüber sitzt ein hagerer Mann, Dreitagebart, hohe Wangenknochen, kleiner Mund. Er trägt einen Pullover der Marke „Le Coq Sportif“. Beide Männer sprechen wenig. Der Dicke zieht einen mehrseitigen Vertrag aus einem Ordner, schiebt ihn mit der flachen Hand über den Glastisch. Der andere unterzeichnet ihn auf der letzten Seite. Danach wandern die Papiere in eine Mappe identischer Verträge, in eine flache, eckige Plastikschale auf dem Tisch. Der dicke Mann holt ein Kartenlesegerät aus einem Regal am anderen Ende des Raums. Er kassiert 27€ und händigt die Kopie des Zahlungsbelegs aus. Diesen symbolischen Betrag nimmt er für die tägliche, notarielle Beglaubigung eines Testaments, das den Besitz seines Gegenübers an dessen Ich des nächsten Tages vermacht. Eine kleine Spleeingkeit, die vorspielt, Dinge zu regeln und so die Angst mit Hilfe einer rechtsverbindlichen Vereinbarungen in Schach hält.

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Wenn sich eine Frau schlafen legte, dann holte sie durch den Mund tief Luft und hielt ihren Brustkorb mitsamt der Luft gespannt. War sie eingeschlafen, dann ließ sie ihren Atem durch zusammengepresste Lippen langsam wieder entweichen, was einen durchgehenden, hohen Pfeifton erzeugte, dessen Frequenz sich über die Nacht immer weiter senkte, bis ihre Lungen gegen Morgen ganz geleert waren. Wenn sie erwachte, schnappte sie nach Luft, kurz vor dem Ersticken. Binnen Sekundenbruchteilen füllten sich ihre Lungen und sie begann normal zu atmen.

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Abends, wenn sie das Licht gelöscht hatte, kündigte sich durch leichtes Jucken auf ihrem Rücken folgendes an: Die starke Behaarung, die sich vom Nacken bis zum Steiß in einer ovalen Fläche über ihren Rücken erstreckte, begann zu wachsen. Nicht nur die Länge jedes einzelnen Haares veränderte sich, sondern auch dessen Umfang, so dass die Behaarung sich im Verlauf des späten Abends zu einem dichten, dunklen Stachelkleid formte. Das anfängliche Jucken steigerte sich mit zunehmendem Wachstum der Haare zu starken Schmerzen, wenn die Haarwurzeln sich in den Poren dehnten und diese strapazierten.

War das Wachstum abgeschlossen, lag sie im Bett, mit ihrem Igelkleid, in dass sie sich einrollte und langsam einschlief, wenn die Haut sich gewöhnte und das Gefühl von Geborgenheit überwog, in dieser stacheligen Kugel zu liegen.

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Ein Mann kehrt jede Nacht im Traum zurück auf eine steinerne Wendeltreppe, die er hinauf hastet. Vor ihm, immer eine Biegung voraus, ein anderer Mann. Er bemüht sich, ihn einzuholen, aber je schneller er läuft, desto schneller läuft der Unbekannte vor ihm. Von oben betrachtet kreisen Mann und Mann unablässig umeinander. Von oben betrachtet wird die Spirale des Treppenhauses zum Kreis.

Er weiß, dass er sich im Inneren eines sehr hohen Leuchtturms befindet, dessen Plattform er noch nicht erreicht hat. Große, leicht gebogene Quader aus Gummi mit hellen Fugen bilden die fensterlose Außenmauer sowie eine mittige Säule, an der sich die Treppe emporwickelt.

Er weiß nicht, wie es außerhalb der runden Mauer ausschaut. Er denkt auch gar nicht darüber nach. Es gibt keinen Außenraum. Zu hypnotisch sind die Schritte des Mannes vor ihm auf der Treppe. Mal sieht er den Saum einer dunkelblauen Jogginghose, mal die Ferse eines Sportschuhs, der sich quietschend vom Treppenabsatz löst.

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Ein Mann legt sich in sein Bett, das einem großen, länglichen Waffeleisen gleicht. Hat er sein Kissen zurechtgerückt, gerät das Bett in Bewegung und senkt den Deckel hinab auf seine Schultern. In gleichem Maße wie der Mann das Bewusstsein verliert, wird das Volumen aus seinem Körper gepresst, bis er tief und fest schläft und dabei so flach geworden ist wie ein Blatt Papier. Auf diese Art liegt er in seinem nun geschlossenen Bett als sein eigener Scherenschnitt und lässt sich durch das Muster des geriffelten Metalls eine neue plastische Form geben.

Erwacht er wieder, poppt der Deckel hoch, getrieben von dem sich ausdehnenden Körper, der wie unter Druckluft seine alte Form annimmt, so dass der Mann wenig später aufstehen kann. Noch ein wenig steif und geprägt vom Muster seiner nächtlichen Liegeposition ist der Mann in seinen Bewegungen einer frühen, computeranimierten Figur gleich, die nicht über eine innere Mechanik zu verfügen scheint, sondern durch das bloße abknicken und verschieben der Körperoberflächen bewegt wird. Erst im Laufe des Vormittags entwickeln sich seine Oberschenkel, Ellenbogen, Finger, Schultern und Wirbel zurück, so dass sie über Versteifungen, Gelenke und Muskeln miteinander verbunden sind und gemäß ihrer jeweiligen Eigenschaften zusammenspielen.

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Irgendwo am Atlantik auf einem Betondeich steht ein Hochhaus. Dort im 23. Stock sitzt eine Frau in einem Sessel am Fenster ihrer Wohnung. Sie blickt hinunter aufs Meer, wo das Licht der Sonne an tausend Stellen abprallt und in wieder tausend verschiedene Richtungen zurückspringt. Unzählige dieser Lichtstrahlen treffen sich im winzigen Punkt ihrer Iris, am Ufer, im 23. Stock hinter ihrem Fenster in ihrem Stuhl in ihrem Auge. Ein Glas ist bis zur Scheibe gerollt und hat eine halbmondförmige Spur dunklen Wassers auf dem Boden hinterlassen. Ein Teppich saugt Teile der Flüssigkeit auf wie ein Verdurstender, der auf dem Linoleum verendet.

Im Dämmerzustand betrachtet die Frau das Kontinuum flackernder Lichter. Sie verpasst nichts, wenn sie die Augen schließt. Hebt sie die Lider nach einiger Zeit erneut, setzt sich das Mosaik weißer Lichter an genau jenem Punkt fort, an dem es endete, als sie die Augen schloss. Das Glitzern fließt dahin in schmelzenden Mustern, die keine zeitliche Ordnung einhalten, obwohl Zeit verrinnt. Alles scheint einander anschlussfähig, als würde nichts die Bedeutung diese Bildes verändern können. Ein rätselhafter, fremder Morsecode, den zu dechiffrieren gar nicht relevant ist.

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Mitten in einer weiten und flachen Landschaft, die durchzogen war von Feldern, kleinen Baumgruppen und Knicks, die früher mal ein Wald gewesen waren, stand ein rotes Backsteinhaus mit einem flachen Dach. Das Haus stand allein und war durch einen Zaun eingehegt, der das Grundstück gegen die umliegenden Felder abgrenzte. Hinter dem Haus war ein kleiner Teich, keine fünf Meter Durchmesser, mit hohen Gräsern umrahmt, die einen pelzigen Kragen am Rand des Wassers bildeten.

Abends, wenn die Sonne rosa über die Felder schien, öffnete sich die hintere Tür des Hauses. Heraus kam eine kleine Frau in gebeugter Haltung. Sie war mit nichts als einem Handtuch bekleidet. In kurzen Schritten ging sie hinüber zum Teich, warf das Handtuch ab und stieg ins Wasser, an einer Stelle, an der die Gräser Platz für einen kleinen Steg gelassen hatten. Einen Meter vom Ufer entfernt war sie bereits bis zum Hals eingetaucht und verschwand kurz darauf ganz unter der Wasseroberfläche, die nur einige Bläschen und einen kleinen, sich ausbreitenden Ring von ihr zurückließ.

Die Frau sank im Teich die halbe Nacht. Tiefer und tiefer glitt ihr Körper in die vollkommene Dunkelheit. Sobald die Farben der Abendsonne sich verflüchtigt hatten, war alles schwarz und sie sah und spürte nichts, als das langsam an ihr vorbeigleitende Wasser. Zur dunkelsten Stunde der Nacht fand ihr Weg hinab ein Ende. Erst unmerklich, dann schneller bewegte sie sich in die entgegengesetzte Richtung, ohne das sie noch wissen konnte, dass es nach oben ging, denn Körpergefühl und Orientierung waren ihr ganz abhanden gekommen. Bei Sonnenaufgang durchbrach ihr Kopf die Wasseroberfläche, ganz unvermittelt, ohne, dass sie noch daran gedacht hätte, dass es diese gab und wie es sich anfühlte, ihren Rand zu durchbrechen.

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Jedes Mal wenn der Mann erwachte, stellte er nach einiger Zeit eine Differenz fest zwischen der Welt, die ihn umgab und jener des vergangenen Tages. Die Unterschiede waren verschiedenen Ausmaßes: Mal war der Präsident ein anderer als gestern, jedoch nicht über Nacht gestürzt, sondern seit Jahren oder Jahrzehnten im Amt. Oder die gesamte Abfolge vorheriger Herrscher war eine gänzlich andere. Oder der Regen war giftig, weshalb die Menschen in den letzten Jahrtausenden ganz andere Architekturen und Arten der Wasseraufbereitung erfunden hatten. Oder Gebirge, Länder und ganze Kontinente existierten nicht mehr, mitsamt der darauf ansässigen Kulturen.

Jede diese Veränderungen hatte große Auswirkungen auf die Menschen, die ihm begegneten und der Mann hatte eine helle Freude daran, sie kennen zu lernen und ihnen von den vergangenen Tagen zu erzählen, in denen die Welt eine andere gewesen war, auch wenn sie ihn für verrückt hielten.

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Ein Mann legte sich jeden Abend zum Schlafen nackt in die Badewanne und stellt sicher, dass der Stöpsel fest im Abfluss saß. War er eingeschlafen, begann sein Körper in eine gallert-artige Masse zu zerfließen bis er ganz aufgelöst war in einer formlosen, gelblich-transparenten Flüssigkeit, die still in der Wanne stand. Lediglich Körperteile, die er im Schlaf anspannte, erhielten ihren festen Zustand, als ob ihre Verkrampfung mit der weichen, fließenden Substanz des restlichen Körpers nicht vereinbar wäre. So trieb nachts, in der vollen Badewanne, im fahlen Licht des Mondes, manchmal ein Nacken, ein Bein, ein Penis auf der glatten Oberfläche, trieb an den Rand der Wanne und dann, wenn er dort geräuschlos abgestoßen wurde, in die andere Richtung weiter, bis der Morgen ihn mit dem restlichen Organismus wieder vereinte.

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In einem kleinen, unterirdischen Bau im Permafrostboden lag etwas, ähnlich eines Menschen und schlief. Es war noch nie aufgewacht und noch nie eingeschlafen. Es hatte kein Sein im wachen Zustand, keinen klaren Anfang und kein Ende. Möglicherweise unterstützten die niedrigen Temperaturen in der Höhle die lange, sinnlose Ruhe, in der das Menschenähnliche existierte. Dies und wie ähnlich es einem Menschen wirklich war, entzog sich aufgrund des andauernden Schlafes einer tiefergehenden Prüfung.

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Als sie dieses Morgens erwachte, hatte sie zum ersten Mal nicht das Gefühl aufgewacht zu werden. Es drückte sie nichts hinaus in die Welt, in die sie nicht wollte, in die sie nur deshalb gezwungen wurde hinüberzutreten, da ihre innere Welt kollabierte. Statt dessen fühlte sie, wie sie sich selbst gebärend die geäderte Bauchdecke durchstieß, welche sie aus Rücksicht, Furcht oder Liebe niemals als passierbar verstanden hatte. Wie ein kleines Monster mit Zähnen auf ihrer runden Zunge, wie eine lebende Schleifmaschine, schreiend und sich windend bahnte sie sich ihren Weg hinaus durch irreversible Zerstörung ihrer eigenen Geborgenheit. Mit ausgebreiteten Flügeln erwartete sie die Melancholie, und hüllte sie ein wie in eine orange-rote Decke, sobald sie angekommen war in der neuen Welt, und sich den Resten der Alten entledigt hatte.

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Durch das große Haus am Rand einer Stadt ist er nachts im Schlaf mit einem Seil geschlichen, durch alle Zimmer, auf der Suche nach seiner Mutter. Dann, als er sie fand im Schlafzimmer, in dem sie oft mit seinem Vater gelegen hatte, nahm er das Seil und wickelte es um ihren Hals. Er zog es fest und schlang es um den oberen Knauf des Bettpfostens, der so oft an die Wand gestoßen war, dass er einen kreisrunden Abdruck in der Tapete hinterlassen hatte.

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Im Allgäu lebte ein Mann, dessen Leben bestand in Folgendem: Er erwachte, streckte sich und blickte aus dem Fenster auf wunderschöne Berge. Dann nahm er eine Nagelschere vom Küchentisch, ging in den Garten und beobachtete die Rasenfläche. Sie fokussierend kniete er sich nieder, seinen Blick auf ein ganz bestimmtes Büschel gerichtet, das seine Aufmerksamkeit erregte. Aus diesem Büschel entschied er sich für einen Halm, der ihm besonders ins Auge fiel. Diesen Halm schnitt er an der Wurzel ab und trug ihn ins Haus und legte ihn auf ein Holzbrett in der Stube. Dann aß er einen Krümel zu Abend und legte sich ins Bett. Er schlief eine halbe Sekunde und erwachte, streckte sich und blickte erneut aus dem Fenster. Er nahm die Nagelschere und ging in den Garten.

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Nachts, wenn der Mensch eingeschlafen war, begann sein Körper den Raum freizugeben, den er tagsüber beanspruchte. Er fiel nicht auseinander, er wurde nicht unsichtbar, er löste sich einfach auf. Zurück blieb ein Volumen, das eigentlich sein eigener Körper ausfüllen sollte, das er nun jedoch der Welt als vakant überantwortete und das sich mit verschiedenen Gasen, Staub und Licht füllte.

Morgens, wenn er erwachte, musste sein Körper sich in gegensätzlicher Bewegung erneut sammeln und alles verdrängen, was über Nacht jenes Volumen für sich beansprucht hatte, das er zuvor freigegeben hatte. Langsam drückte der sich wieder materialisierende Körper alle fremden Partikel beiseite bis er ganz gewöhnlich im Raum lag und die Luft einsog, die er zuvor noch von sich geschoben hatte. War dies abgeschlossen, schlug der Mensch die Augen auf, als hätte er seinen Anspruch auf seinen Platz in der Welt niemals aufgegeben und als ob er sich dem Wunder nicht bewusst war, dass die Welt ihm diesen Raum Tag für Tag wieder zugestand.

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