Ihr Aufenthalt in Offenbach war kurz. Bald schon Übertrug man Ihnen andere Aufgaben. Wie kam es dazu und welche Rolle schreiben Sie Dr. Strohbrück in diesen VorkoMmnissen zu?
Sie haben ganz recht. Meine Tage in Offenbach waren zu diesem Zeitpunkt bereits gezählt. Nur wusste ich scheinbar als Einziger nichts von diesen Plänen, die doch meine Zukunft in ganz erheblichem Maße zu beeinflussen drohten. Ich selbst wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Eines Nachmittags sah ich Walter mit einigen Herren der Werksführung über den Hof spazieren, in eine leichte Unterhaltung verstrickt. Ich befürchtete, dass Walter ein weiteres Mal seinem verräterischen Naturell nachgegeben und unsere Entdeckung zu seinem eigenen Vorteil der Industrie verkauft hatte. Angst und Wut begannen erneut zwischen meinen Lungenflügeln zu kreisen wie kleine Geier – zu Unrecht, wie ich einige Tage später erfuhr, in denen ich voll Verzweiflung und Ohnmacht meinen Dienst im Werk verrichtete, ohne Walter ein weiteres Mal über den Weg zu laufen – was meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen schien.
Dann jedoch, an einem Dienstag in der Früh, es war die Stunde, in der man sich zur Inventur der Gasbehälter im Lager einzufinden hatte, wurde meine Person unerwartet in die Chefetage der HAW zitiert. Überrascht und auch ängstlich leistete ich Folge, dachte ich doch nach wie vor, dass Walter unser beider Zukunft für einen besseren Posten im Werk leichtfertig verschleudert hatte.
Man bat mich in ein Vorzimmer der prunkvoll ausgestatteten Räumlichkeiten unserer Eigentümer, in denen sich Arbeiter unseres Betriebs nicht nur deplatziert vorkommen mussten, sondern die aufgrund der Seltenheit ihrer Einladung und den dementsprechend außergewöhnlichen – und meist außergewöhnlich schlimmen – Anlässen geradezu gefürchtet wurden. Ganz wie ein heiliger Platz oder ein Totem den gläubigen Gemeinschaften fremder Völker regelrecht körperliches Unbehagen einzuflößen im Stande ist. Eine junge Sekretärin von atemberaubender Schönheit, wie ich mich nicht erinnern konnte sie jemals gesehen zu haben, bat mich freundlich lächelnd durch eine schwere hölzerne Flügeltür in das sich dahinter befindende Büro. Betäubt und eingeschüchtert wankte ich in den Raum. Dort saßen an einem großen Tisch, dessen Platte auf mehreren kunstvoll geschnitzten Arrangements von Schilfrohr, jungen Weiden und allerlei Fauna kleinerer Gewässer sich stützte, eine Gruppe ernst dreinblickender Männer in Anzügen sowie Walter Strohbrück. Alle zogen sie zugleich an ihren Zigarren, als bildeten sie einen organischen mehrzylindrigen Motor, dessen Kammern kreisrund um den Tisch angeordnet jede für sich blauen Rauch ausstießen, um in dieser Rhythmik eine mir verborgene Kurbelwelle anzutreiben.
Diese Eindrücke noch verarbeitend, wurde mir der eigentliche Anlass unterbreitet, der die unerwartete Nähe zwischen Walter und den HAW-Vorständen begründete: Unter dem Decknamen “Kormoran” sollten Walter und ich umgehend aufbrechen, um in Stralsund an der Ostsee einen geheimen Plan der HAW zu realisieren. Details würden per Umschlag auf der Reise übermittelt werden um größtmögliche Geheimhaltung unter den Werkskollegen sicherzustellen, was mir bei genauer Betrachtung unserer beider Position innerhalb der Belegschaft sowie unseres eher stillen Naturells reichlich übertrieben schien. Ich verließ das Zimmer mehr als irritiert mit der Anweisung, meine Habseligkeiten zu packen, um am folgenden Morgen die Reise nach Nord-Osten antreten zu können.
Wie mir geheißen war, bereitete ich alles auf die Abfahrt vor und fand mich dann auch gemäß unserer Verabredung am nächsten Morgen vor Walters Räumlichkeiten ein, um mich mit ihm gemeinsam in unser neues, unverhofftes Abenteuer zu stürzen. Zuerst einmal wurde mir jedoch bewusst, dass Walter nicht Willens noch körperlich in der Lage gewesen wäre, seine zahlreichen und außerordentlich schweren Gepäckstücke selbst in die bereitstehende Kutsche zu schaffen, weshalb ich, der ich mit Gepäck immer sehr sparsam umzugehen pflegte, dem Kutscher zur Seite gestellt wurde, um diese Aufgabe zu übernehmen.
Die Kutsche brachte uns anschließend, entgegen in mir aufkeimender, neuerlicher Befürchtungen, direkt zum Offenbacher Hauptbahnhof, wo wir ohne weitere erwähnenswerte Vorkommnisse in den Zug stiegen. Die Fahrkarten steckten gut und weithin sichtbar in Walters Brusttasche. Unter seinen Arm geklemmt trug er einen braunen Umschlag, dessen Beschriftung “Operation Kormoran” mit einem dünnen Stift ausgeführt worden war, was die Lesbarkeit erheblich erschwerte.
Erst im durch die HAW für uns reservierten Abteil angekommen und sitzend war ich mir der Richtigkeit meiner Beobachtung sicher. Als sich der Zug in Bewegung setzte, öffnete Walter das braune Couvert und wir waren endlich in der Lage Einblick in die uns zugedachte Aufgabe zu erlangen:
Die hessischen Acetylenwerke trugen sich mit der Absicht, vom bereits geschilderten Zustand der deutschen Industrie über die bisherigen Maße zu profitieren. Nicht nur die Herstellung von Acetylen und Sauerstoff, auch die Ausführung der praktischen Schweißarbeiten rückte ihnen ins Blickfeld und sollte zukünftig einen Teil der Gewinne des Werks sicherstellen. Ein lukrativer Standort für die Zerlegung allerlei stählerner Industriegüter benötigte jedoch nach allgemeiner Auffassung einen Zugang zum Meer, um An- und Abtransport in den erforderlichen Mengen garantieren zu können. Ein Merkmal, mit dem Offenbach sich nur bedingt schmücken konnte. War doch gerade die Dekonstruktion großer Schiffe besonders gewinnbringend durchzuführen. Auf der Suche nach passenden Standorten entlang der Nord- und Ostsee war den Herren die Hafenstadt Stralsund ins Auge gefallen. Um die genauen Bedingungen vor Ort zu eruieren und Vorzüge wie Nachteile nachvollziehbar zu dokumentieren, wurden Walter und ich in Folge dessen auf die Reise geschickt. Darüber hinaus wurden wir angewiesen in Folge eines eventuellen positiven Urteils sogleich die entsprechenden Maßnahmen zur Gründung eines lokalen Unternehmens zu ergreifen.
Das gerade wir mit solch einem Sonderauftrag betraut wurden, wird wohl eher eine Folge der dramatisch dünnen Personaldecke des Unternehmens als unserer herausragenden Qualifikation gewesen sein. Aber das konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt nur denken. Wir waren froh, erneut aus der beklemmenden Enge des Werks entkommen zu sein. Ich verbarg in mir jedoch auch die stille Hoffnung, meine, sich bald einem Ende zuneigende Ausbildung, um eine weitere Unterbrechung zu bereichern und damit meinen Wiedereinstieg ins Orlovski-Familienunternehmen – was nach wie vor ein festes Ziel meines Vaters war – erneut in die Zukunft zu schieben.
Ich musste unwillkürlich an eine kleine Halbschale aus Gummi denken, die mir einige Wochen zuvor im Werk in die Hände gefallen war. Sie war aus blass-rotem, weichem Material gegossen, so dass sich ihre Innenseite ohne große Kraftanstrengung nach Außen stülpen ließ. Einige Sekunden später sprang sie jedoch zurück in ihre ursprüngliche Form, was mit einem leisen “Plopp” zu geschehen pflegte. Legte man die Halbschale verkehrt herum auf den Boden, katapultierte sie sich mit dieser Umstülpung bis zu einem ganzen Meter in die Höhe, was sie zu einem beliebten Spielzeug für Kinder hätte machen können. Im Zug sitzend konnte ich meine Gedanken nicht von dieser sprunghaft sich umstülpenden und Frosch-gleich hüpfenden Gummischale wenden, während mein Blick abwechseln Walter streifte, der mir gegenüber im Abteil Platz genommmen hatte, und auf die Gruppen jener Gebäude fiel, die stetig spärlicher und brüchiger an unserem Fenster vorüberzogen und so das Ende der Offenbacher Vorstädte ankündigten.
Statt der mir drohenden Sackgasse hatte sich doch wieder ein kaum sichtbarer Weg, ein dünner Pfad aufgetan, auf dem ich nun leichten Herzens einer neuen Zukunft entgegen zu hüpfen im Stande war.