Gibt es Verhaltensregeln oder Ratschläge, die Ihnen seitens ihrer Mutter mitgegeben wurden?
Da gab es in der Tat einen Moment, in dem meine Mutter mir einen Ratschlag erteilte. Was sie mir mit auf den Weg geben wollte, habe ich mir in besonderer Weise eingeprägt, auf dass es im weiteren Verlauf meines Lebens immer wieder Maßgabe meines eigenen Handelns sein könnte.
Es geschah am Morgen der letzten Nacht, die ich zuhause verbringen sollte. Meine Koffer waren bereits gepackt und es war alles vorbereitet worden, um mich ins Werk nach Offenbach zu fahren. Dort war mir eine kleine Zimmergemeinschaft bereitgestellt worden, da sich der Weg von Ehrenfeld als zu lang für eine tägliche Anreise erwiesen hatte. Anstatt jeden Morgen den Chauffeur mit einer mehrstündigen Fahrt nach Offenbach zu belasten, hatte ich mich höchstselbst bereit erklärt, ein Arrangement mit den anderen Lehrlingen des Werkes zu wagen.
In dieser Nacht habe ich verständlicherweise kein Auge zutun können. Die vertraute Umgebung, die Muster, die der Mond durch die unregelmäßig gegossenen Fenster an die Zimmerwand warf und die mich seit Jahren in vertrauter Art als letzter Eindruck in den Schlaf geleiteten, schienen mich in diesen letzten gemeinsamen Stunden nicht ziehen lassen zu wollen. Darüber hinaus war ich erfüllt mit Gedanken an meine zukünftigen Kollegen, an das neue Zimmer und das Werksgelände, das ich am nächsten Tag zum ersten Mal betreten sollte, was ich seit Tagen freudig erwartete. All dies konnte ich nicht verhindern mir im Geiste auszumalen, während ich in meinem Kinderbett auf dem Rücken lag, die Hände angespannt ineinander verschränkt.
Solcherart unfähig die Augen zu schließen war mir nicht entgangen, dass sich jemand in der Frühe anschickte, etwas in der Stube zu arrangieren. Einige Zeit lauschte ich dem Rascheln, Schlurfen und Kratzen, dann beschloss ich hinunter zu gehen, um zu schauen, welche Überraschung da anlässlich meines Abschieds vorbereitet wurde. Ich nahm mir vor, Verwunderung zu gaukeln und legte mir einen passenden Ausruf zurecht, den ich beim Eintritt in die Stube auszustoßen plante. Als ich jedoch die Treppe hinunterschritt, erblickte ich auf dem Tisch bereits mein Frühstück sowie daneben drapiert eine wunderschöne Rindsledertasche. Entgegen aller Vorbereitung packte mich die Rührung. Die Tasche hatte schöne, große Fächer für Unterlagen sowie eine Halterung für Schreibgeräte – ganz passend für einen richtigen Studenten! Meine Mutter hatte nicht nur die Tasche erstanden. Sie hatte darüber hinaus die bekannte Chemieeinführung von Wilhelm Ostwald in zwei Bänden hineingelegt, die Ihnen vielleicht ein Begriff ist.
Mein Vater war zu dieser Zeit bereits in sein Büro entschwunden, weshalb wir zu zweit am Tisch saßen, wo ich langsam mein Frühstück verspeiste. Ich erinnere noch, wie ich bar jeden Hungers den Blick nicht von meiner neuen Tasche abzuwenden vermochte, während ich um meiner Mutter Willen an einer Scheibe Brot mit Sirup knabberte. Meine Ohren glühten so sehr, dass man ein Zündholz an ihnen hätte entflammen können.
In diesem Augenblick, in dem wir gemeinsam zu Tisch saßen und ich mir die Backen mit gesüßtem Brot füllte, sagte meine Mutter unvermittelt: „Das Verlockendste einer sich bietenden Gelegenheit ist allzu oft allein der Umstand, dass einem das Leben gar nicht so viele Momente schenkt, in denen man wählen kann. Lass dich davon nicht verführen, im Rausche der Entscheidung zu viel oder zu wenig für dich zu beanspruchen. Beides führt ins Elend.“ Wie sie da saß und mich beim Essen betrachtete, diesen Moment kann und will ich nie vergessen. Ich wähnte mich im Gefühl genau zu wissen, was sie mir sagen wollte. Heute jedoch denke ich, damals nicht im Geringsten den Wert ihrer Worte erfasst zu haben.
Wir verfügten zu dieser Zeit bereits über eine eigenen Fotoapparat, mit dem ich im Anschluss noch ein letztes Mal in meiner neuen Tasche und den unzähligen Erwartungen, die mich erfüllten, zum Zwecke späterer Erinnerung festgehalten wurde. Auch diese Aufnahme hängt an jener Wand neben der Treppe im Haus meiner Eltern. Nach dieser Pose jedoch stieg ich ins Automobil, um besagtem Haus für immer den Rücken zu kehren. Erhobenen Hauptes saß ich auf der Rückbank, während der Wagen auf die Straße bog und im Morgenlicht über das Pflaster ruckelte. Ich war so stolz und mir war die Brust so voller froher Erwartungen, dass es beinahe schien, als ob jeden Moment der ganzen Wagen nur mit der Kraft meines leichten Herzens von der Straße in die Luft gehoben würde, um hinüber nach Offenbach zu fliegen.