Dr. Walter Strohbrück wurde zu diesem Zeitpunkt ihr Lehrer. Welchen Eindruck machte er auf sie und ihre Kollegen?
Wer mit Dr. Strohbrück konfrontiert wurde, dem konnte zuerst seine ihm ganz eigene Aussprache nicht entgehen. Er verfügte über eine ungewöhnlich hohe Stimmlage, die er in nasaler, schleppender Weise über jeden Satzbau immer gleich zu ziehen pflegte. Am Ende eines jeden Satzes – so er irgendwann erreicht war – ließ er seine Stimme wie einen nassen Sack in sich zusammenfallen und unterstrich auf diese Art das Gewicht seiner stets treffenden und präzisen Beobachtungen. Zu jener Zeit sah ich in ihm einen ganz herausragenden, feinen und anständigen Vertreter seiner Zunft als Wissenschaftler.
Ich muss erwähnen, dass zu Walters Person überaus kontroverse Meinungen kursierten. Während ich mich zu einer zugestandenermaßen jugendlich-euphorischen, beinahe grenzenlosen Verehrung dieses ausgesprochen facettenreichen Menschen hinreißen ließ, kann man die Haltung der restlichen Lehrlinge anhand einer Geschichte darstellen, die seit Jahren an der HAW kursierte und selbst einigen der älteren Mitarbeiter noch aus ihrer eigenen Lehrzeit geläufig war:
Bevor Walter seine damalige Stelle an der HAW ausfüllte, promovierte er mit Erfolg an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn im Fachbereich Organische Chemie und erklärte sogleich seine Absicht mit einer Habilitation fortzufahren, in der er chemische Prozesse anhand der darwinistischen Theorie zu erklären plante. Diese Arbeit finanzierte er mithilfe seines vorzüglichen Händchens im Skatspiel, das vielen unerfahrenen Bonner Verbindungsstudenten zum Verhängnis wurde. Weiterhin pflegte er einen äußerst sparsamen Lebensstil. Der junge Strohbrück ernährte sich jahrelang von Weizenschrot, Kochsalz und Wasser, das an verschiedenen Stellen durch den Dielenboden der Bäckerei rieselte, unter welcher er in einer schäbigen Kellerwohnung hauste. Schlichte Gemüter sahen bereits hierin den Grund für sein entrücktes Wesen, das an vielen Tagen nicht ganz im Hier und Jetzt zu existieren schien, sondern in einer magisch-chemischen Zwischenwelt.
Die Habilitation jedoch scheiterte aus unbekannten Gründen. Ihr folgten verschiedene, teils haarsträubende Anstellungen, unter anderem als Verkäufer von Potenzmitteln, als Vorarbeiter in einer Seifenproduktion und als Kohlelieferant. Bei der HAW hatte er schließlich als einfacher Labortechniker angeheuert. Ursprünglich war er beauftragt einen verunglückten Kollegen zu vertreten und in dieser Funktion verantwortlich für die Beaufsichtigung einer speziellen Hefepilzkultur. Der Legende nach entwickelte Strohbrück eine geistige Symbiose mit dem Hefepilz, woraufhin dieser begann, auf Befehl normale Luft in reines Acetylen umzuwandeln. Aus unbekannten Gründen missgönnte Strohbrück jedoch seinen Vorgesetzten diese Erfindung. Er verspeiste den Hefepilz am letzten Tag des Experiments und gelangte so zur eingangs beschriebenen Stimmlage. Die Werksleitung tobte, als sie erfuhr, was Strohbrück ihnen vorenthalten hatte und strafte ihn mit einer Lehrstelle in theoretischer Chemie, die er von nun an bis zum Ende seiner Tage auszufüllen hatte.