Wie entwickelte sich ihre Gruppe nach dieser Wiedervereinigung? Schilder Sie besonders das Verhältnis zwischen Walter und Ernst.
Das bereits erwähnte Treffen wurde eine Woche später in unserer Wohnung im Club Royal angesetzt. Walter, im ersten Moment wenig begeistert von einem weiteren Mitwisser, änderte nach kurzem Zögern seine Meinung. Wohl erhoffte er sich einen weiteren Verbündeten gegen Freymuth Kienzle, dessen Vorstellungen der Helitaminverwertung sich doch in erheblichem Maße von den unsrigen Unterschied, wie wir mittlerweile anerkennen mussten.
Am Abend des 19. Mai 1920 zirkelten Walter und ich also in nervöser Betriebsamkeit durch den Eingangsbereich unserer Wohnung. Unseren beiden Gästen war ein edler Umschlag zugestellt worden, darin eine handgeschriebene Einladung mit der Bitte versehen, dieses Schreiben zum Zwecke der Geheimhaltung nach Erhalt zu vernichten. Ähnlich geheimnisvoll sollte unser Empfang gestaltet werden. Einige Kerzen erhellten den fensterlosen Flur, welcher gewöhnlicherweise durch eine elektrische Glühbirne an der Zimmerdecke nutzbar gemacht wurde. Walter rubbelte mit einem weichen Tuch an einer Vase herum, um den Empfang bis aufs letzte Detail tadellos vorzubereiten.
Wichtigster Tagesordnungspunkt sollte die formlose Gründung eines Unternehmens oder Vereins sein, um unserer Gruppe endlich eine greifbare, verbindliche Konstitution zu geben. Eine Bedingung Kienzles, dem wir, auch wenn wir viele seiner Ideen nicht teilten, durch unsere neue Wohngelegenheit sowie die finanzielle Unterstützung auf gewisse Weise zu Zugeständnissen verpflichtet waren.
Irgendwann klopfte es an der Tür. Ich sprang herbei, um unseren Freunden zu öffnen. Hinter der Tür bot sich mir jedoch ein unerwarteter Anblick. Statt zweier verschwörerisch dreinblickender Männer stand da ein mir unbekanntes Paar. Feine, aufeinander abgestimmte Kleidung trugen beide und die Dame hielt ein kleines Präsent in Form einer Flasche in den vor ihrem Rock gefalteten Händen. Hinter den beiden, auf den zweiten Blick zu erkennen, stand Ernst, klein und schüchtern und zog ein Gesicht, als mache er sich auf eine Tracht Prügel gefasst.
Solcherart konfrontiert entzog sich mein Gesicht kurz jeglicher Kontrolle, obgleich mir bewusst war, dass eine Reaktion vonnöten gewesen wäre. Die Tür wieder zuzuschlagen mochte ich Ernst nicht antun, auch wenn ich jedes Recht der Welt auf eine solche Abfuhr gehabt hätte. Und so bat ich dann mit steifer Geste alle drei als Gäste in unseren geheimnisvoll ausgeleuchteten Flur.
Nach kurzer Begrüßung stellte sich die Situation wie folgt dar: Bei dem gut gekleideten Paar handelte es sich um Newt und Hildi Lody-Jones. Freunde Ernsts’ von der Insel Rügen. Hildi, in keinster Weise verlegen oder meine eigene Verlegenheit beachtend, streckte mir sofort ihre Hand entgegen. Rückblickend erinnere ich, dass sich in mir bereits in diesem Moment der Eindruck einer gewissen Übergriffigkeit bildete, der sich in den folgenden Monaten verfestigen sollte. Walter schien von der Situation ebenfalls überfordert. Er stand in der Ecke und wrang still an seinem Staubtuch.
Ernst, bemüht die bestehende Verbindung der Drei zu erklären, sah sich zu dem Geständnis genötigt, hauptsächlich von Zuwendungen dieses Paares seinen Unterhalt auf Rügen überhaupt bestreiten zu können. Sie waren sozusagen seine Mäzene und er war von jenem Pärchen abhängig, das ihn als kulturelle Erfrischung und drittes Rad gern um sich hatte und dafür auch Kost und Logis des jungen Kunstmalers zu zahlen bereit waren.
Als Walter mit Weingläsern in den Flur zurückkehrte – er hatte sich im Moment größten Unbehagens aus dem Zimmer gestohlen – trat eine kugelförmige samtene Kutte durch die noch immer offen stehende Wohnungstür herein. Es war Kienzle, der nun jene ihn bedeckende Kapuze zurück warf und in dramatischer Geste seine Identität zu erkennen gab. Erst in diesem Moment bemerkte er die beiden Unbekannten im Raum und ruinierte die geplante Wirkung seines Auftritts durch einen kurzen Moment der Fassungslosigkeit.
Nach wiederholter Klärung der Situation begaben wir uns nun endlich alle gemeinsam in die Stube, wo Walter und ich einen Salon so gut es ging vorbereitet hatten. Ein unerwartet interessantes Gespräch entwickelte sich im Folgenden und ich begann meine Zurückhaltung zu verlieren ob dieser neuen, unerwarteten Konstellation. Das Ehepaar Loyd-Jones gab ein merkwürdiges, aber unterhaltsames Bild ab. Meist war es Hildi, die mit großer Geste jene leisen Anmerkungen und Überlegungen aus dem Englischen übersetzte, die ihr Gatte mehr für sich murmelte. Newt war ein Philosoph und ein großer Verehrer Nitzsches, das wurde schnell deutlich. Ein Hauch von Übermensch schwebte an diesem Abend allgegenwärtig durch den Raum.
Mir entging nicht – denn auch ich war des Englischen mächtig –, wie sehr Hildi die ursprünglichen Kommentare ihres Mannes abänderte oder verkürzte. Newt, selbst nicht willens Deutsch zu sprechen, sehr wohl aber in der Lage dieses zu verstehen, reagierte auf ihre Interpretationen stets mit gequält zuckenden Mundwinkeln. Jedoch, er schritt kein einziges Mal ein, um sie zu korrigieren.