Frage 25

Ihre Schilderungen klingen, als ob sie diese Zeit als eine Phase der Isolation erfahren hätten. Erinnern Sie Bilder oder Momente, die in besonderer Weise für ihre damalige Situation stehen könnten?

Ich erinnere mich an einen Morgen, es muss der 23. Dezember 1918 gewesen sein. Gemäß meiner Pflicht, eine halbe Stunde vor den Kollegen am Platz zu sein, um die nötigen Aufzeichnungen für den Arbeitstag zu erstellen, war ich früh aufgestanden. Nun lehnte ich schweigend und gedankenverloren am Fenster, vor dem sich eine Nebelbank in den schwachen Tagesanbruch schob und Lichter, Bewegungen und Geräusche zu schlucken suchte.

Ein kleiner Christmarkt kündigte das bevorstehende Fest an, über dem eben jene, meinem Auge sich immer wieder entziehende, Lampions angebracht worden waren und unter denen Menschen gerade in diesem Moment in nicht eben höflichem Ton sich gegenseitig ihre Meinungen darlegten. Ich blickte hinab auf die mit braunen Furchen durchzogene Pflasterstraße und den Platz dahinter, auf dem nun ein gutes Dutzend kleiner Buden ihre wenigen und dürftigen Waren feilboten. Wenig Schönes hatte ich dort gesehen, als ich vergangenen Tags eine schnelle Runde dort hindurch unternehmen konnte. Kandierte Steckrüben waren dieser Tage ein beliebtes Mittel junger Männer, den Damen ihres Herzens eine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In Geschmack und Konsistenz gleichermaßen schienen sie eine Prognose auf die gemeinsame Zukunft abzugeben. So sah ich ein ums andere Mal verliebte Paare solcherart über den Marktplatz schlendern: Die Dame untergehakt mit einem Arm, während die andere Hand eine Papiertüte mit süßem Inhalt balancierte, auf deren Form und Verpackung immer wieder kichernd verwiesen wurde. Selbst hinter meiner Glasscheibe im ersten Stock schoss mir die Röte ins Gesicht, als ich der Anspielung dieser jungen, wohl bald verheirateten Paare gewahr wurde.

Mein Beobachtungsposten an der Scheibe versetzte mich in die Lage, in aller Ruhe und ungestört meinen Blick schweifen zu lassen, denn mein Kollege und Zimmernachbar Paul galt seit dem Winter 1916 als verschollen und war eben jener Gruppe junger Männer zuzuordnen, die niemals wieder ihren Dienst am Acetylenbecken ausführen würden. So waren auch unsere in früheren Zeiten durchaus üblichen Konflikte endgültig ausgefochten, die stehts um Nutzung und Aufteilung des Brennmaterials unseres kleinen Ofens sich bewegt hatten. Daran in Gedanken noch hängend, entzündete ich ein kleines Feuer, um Tee zu kochen.

Bereits Wochen zuvor hatte ich entschieden, die Weihnachtstage nicht wie gewohnt im Kreis meiner Familie verbringen zu wollen. Statt dessen war es mein Wunsch gewesen, im Werk zu verbleiben und dort, jeder schweren Arbeit entledigt, einige Tage vollkommener Ruhe zu genießen. Den Vorwand eines gnadenlosen Produktionsplans legte ich meinen Eltern schriftlich dar und ließ ihnen diese schwache Entschuldigung postalisch zukommen. Meine verantwortungsvolle Rolle im Getriebe deutscher Produktion hervorhebend, erbat ich mir Verständnis für diese wenig feierliche Entscheidung.

Per Eilbote erreichte mich wenige Tage später ihre Antwort. Ein kleines Kärtchen sowie drei Pakete wurden mir mit ernster Miene übergeben – ganz so, als ob es sich um eine kaiserliche Depesche handele, anhand derer sich später in Geschichtsbüchern und bei Fackelschein das Schicksal eines Volkes in die ein oder andere Richtung fallend, erzählen lassen würde.

Ich überließ dem Boten ein bescheidenes Trinkgeld, wusste ich doch, dass mein Vater selbst den Gläubigsten seiner Angestellten nur mit Zähneknirschen ein Recht auf das ihnen so wichtige Weihnachtsfest zugestehen würde, ganz zu schweigen von einer Bezahlung für die so entgangenen Arbeitsstunden. Der Bote wünschte mir gesegnet zu werden und verschwand im unbeleuchteten Treppenhaus.

Ich öffnete das Kärtchen. Es enthielt einen kurzen Reim, der – frei übersetzt – ein frohes Fest zu wünschen sich herausnahm. Eine kleine Tanne illustrierte die heiligen Grüße. Anbei im ersten Paket fand sich ein Lehrbuch über Gummivulkanisierung. Kein schlechtes Geschenk, jedoch waren mir die Lektionen bereits ausführlichst bekannt, was meinen Eltern nicht bewusst gewesen sein dürfte. Ich hatte aufgegeben sie über den Fortschritt meiner Studien ins Bild zu setzen, da ich mich nicht in der Lage sah, meine ganz für mich entdeckte Freude an der Chemie den betrieblichen Spekulationen meines Vaters vor die Füße zu werfen, die, wie ich bereits schilderte, seit dem ersten Tag mein Schicksal in besonderem Maße zu lenken schienen.

Das zweite Paket beinhaltete einen Morgenmantel. Hübsch golden eingewebt auf blauem Grund fanden sich die Initialen O.O., wohl auf meinen Vor- und Zunamen verweisend, wie ich hoffte. Da aber auch hier das Spiel meines Vaters mit den für mich in hohem Maße demütigenden Vergleichen in unserer familiären wie betrieblichen Nachfolge nicht auszuschließen war, übergab ich dieses Geschenk als allererstes dem Feuer unseres kleinen Ofens. Bald darauf flackerten auch die letzten Seiten des Lehrbuchs in der kleinen gusseisernen Kammer, auf der leise und gleichmäßig mein Tee zu pfeifen pflegte.

Der Inhalt des letzten Pakets lag noch lang auf meinem Tisch, da ich am allerwenigsten mit ihm anzufangen in der Lage war. Es handelte sich um einen schmucklosen Holzkasten, von innen mit einem Papieremblem der Firma Orlovski versehen. Darin eine Kollektion der aktuellen Orlovksi-Bolzenkollektion. Akkurat beschriftet und aufgereiht wie Schmetterlinge in einem Setzkasten. Ich begann kleine Dinge wie Gummibänder, Heftklammern und Münzen darin zu sammeln und ließ sie auf dem Tisch stehen, an dem ich seit meiner Rückkehr kein einziges Mal gesessen hatte, um zu Essen oder Besuch zu empfangen.