Mit beginn ihrer Ausbildung änderte sich ihr soziales Umfeld. Wie kamen sie im Alltag als Lehrling zurecht?
Vorweg sehe ich es als meine Pflicht zu betonen, dass der strikte und fordernde Tagesablauf allen Lehrlingen in besonderer Weise zusetzte. Obwohl ein Jeder seine höchsteigene Herausforderung im Alltag der HAW zu finden und zu bewältigen hatte, wurden sich die neuen Kollegen doch schnell einig, welcher Unterrichtsteil am meisten Unmut zu produzieren im Stande war: Jeden Montag morgen ab sieben Uhr hatte die gesamte Truppe zum theoretischen Chemieunterricht des Dr. Walter Strohbrück in Seminarraum 2.4 zu erscheinen. Es gab zahllose Dinge, in denen ich ganz verschiedener Ansicht und Ausprägung war als diese mich umgebenden rohen Gesellen. Am deutlichsten trat meine in gleichem Maße tragische wie privilegierte Andersartigkeit jedoch in diesen Stunden zutage, in denen ich den allgemein verteufelten Unterricht als Gelegenheit begriff, mir die verborgenen Geheimnisse der industriellen Chemie – und damit der diesseitigen Welt – offenzulegen.
Wie alle Räume des ersten Stocks war auch der Seminarraum 2.4 von einem steten Ammoniakgeruch erfüllt. Er kroch scheinbar aus jeder Wand des Stockwerks, das vor langer Zeit mit einer dicken, wasserabweisenden Lackschicht in hellblau, minzgrün und – im Falle unseres Raumes – in blassrosa angestrichen worden war. Er war eingerichtet mit stufenweise im Halbkreis angeordneten Holzbänken, die sich zum Kopf des Raumes hin einer großen Tafel zuordneten, einem Klassenraum nicht unähnlich. Meine Bank hatte ein unbekannter Vorgänger mit einem Galgenmännchen markiert, das in die Tischplatte eingeritzt mir keck seine Zunge präsentierte. Diese Darstellung wurde mir Symbol und Mahnung, dass mitnichten die theoretische Chemie, sondern vielmehr der mich umgebende Jahrgang als verzichtbare Geißel im Ausbildungsalltag zu sehen war. In den Kerben des Strichmännchens hatte sich eine schwarze Kruste gesammelt, sodass die Linien der Figur deutlich wahrzunehmen waren. An manchem grauen Montagmorgen, an dem mir die Welt allzu feindlich und fremd erschien, zauberte mir dieses Figürchen ein Lächeln aufs Gesicht.
Mit Glück und einigem Einsatz war es den Lehrlingen im Übrigen möglich sich dem Unterricht das ein ums andere Mal zu entziehen: Jeden Freitagabend wurde am schwarzen Brett in der Eingangshalle unserer Unterbringung eine Liste ausgehängt um die sich alsbald eine kleine Traube junger Männer scharrte. Es handelte sich hierbei um die freiwillige Besetzung eines Reinigungstrupps, der die wöchentliche Säuberung des großen Elektrolysebeckens zu übernehmen hatte, welche aus unbekannten Gründen am Montagmorgen parallel zur Unterrichtseinheit von Dr. Walter Strohbrück angesetzt wurde. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Aussicht, dem Unterricht entgehen zu können, bewusst als Anreiz für diese außerordentlich gefährliche Tätigkeit einkalkuliert wurde. Denn im Zuge der Reinigung wurde der Freiwillige in ein Geschirr gefasst und in das geleerte Bassin hinabgelassen, um dort mit einer großen Drahtbürste die korrodierten Kupferplatten blank zu schrubben. Hinzu muss erwähnt werden, dass sich einige Jahre zuvor ein tödlicher Unfall bei dieser Prozedur ereignet hatte.
Ein Vorarbeiter war versehentlich an den Stromschalter gestoßen. Der bemitleidenswerte Lehrling baumelte am Seil und zuckte und krampfte bei jeder Berührung mit der Kupferplatte unter zahlreichen Funken und Blitzen.. Trotz allem füllte sich die Liste jede Woche aufs Neue innerhalb weniger Augenblicke.
Ich erinnere zahlreiche Montage, an denen ein Häuflein schlaftrunkener, junger Männer vor der minzgrünen Tür des Seminarraums auf Dr. Strohbrück und den Beginn des Unterrichts wartete. Als einziger unter ihnen erwartete ich jede Woche voller Vorfreude die neuen Einsichten, die uns bevorstanden, um einen weiteren Teil der Natur, des Menschen und seines Universums verstehen zu können. Ganz nervös knispelte ich an den Knöpfen meines Pullunders, die nach einiger Zeit ganz klein und abgegriffen wurden.