ENTGEGEN IHREN ERWARTUNGEN WURDE DAS PROJEKT SPERLING NICHT EINGESTELLT. Wie oder unter welchen Bedingungen konnten sie das weitere Forschungs- unterfangen moralisch verantworten?
In der Tat waren wir mehr als überrascht, als die Heeresleitung nach den von uns geschilderten Ereignissen weiteren Forschungen im Sinne des Sperling Projekts zustimmte. Bereits wenige Tage nach erfolgter Berichterstattung erreichte uns ein Telegramm, welches die unmissverständliche Aufforderung enthielt, die Entwicklung eines weiteren Prototypen unter allen Umständen voranzutreiben. Selbstverständlich waren wir – wie wohl jeder gute Soldat – bemüht, den Forderungen unserer Befehlshaber zu entsprechen. Der solcherart veranlasste Strategiewechsel hatte jedoch eine Vielzahl unterschiedlicher Beweggründe, von denen zwei ausdrückliche Erwähnung verdienen:
Zuvorderst mangelte es uns an einsatzfähigen Testpiloten, die eine neue Maschine zu bedienen im Stande gewesen wären. Aufgrund der außergewöhnlichen Flugeigenschaften des Sperling war einiges an Erfahrung und Furchtlosigkeit gefragt, um ihn zu kontrollieren und Männer dieser Prägung waren in Kriegstagen rar gesät. Darüber hinaus wogen unsere Bedenken bezüglich einer erneuten Leckage der Gastanks schwer, hätte sie doch auch weiterhin jederzeit zu einem Totalverlust von Mann und Gerät führen können. Zwar erörterten wir die Möglichkeit, den hochbrennbaren Wasserstoff durch Helium zu ersetzen, um so die Sicherheit des Piloten während eines Fluges beachtlich zu steigern. Die hohen Kosten sowie die schlechte Verfügbarkeit des benötigten Heliums rückten diesen Vorstoß jedoch bald in weite Ferne – hatte doch ganz Europa nicht eine einzige Förderstätte für dieses leichte Gas aufzuweisen.
Den rettenden Vorschlag unterbreitete Ernst von Rheide. Seiner Argumentation folgend, konnte auch ein Modell im verkleinerten Maßstab bis auf weiteres alle Anforderungen unserer Forschungstätigkeit erfüllen. Nicht nur, dass es uns auf diesem Weg möglich wurde, unsere Aufgabe ohne einen geeigneten Piloten fortzusetzen, auch die Beschaffung von Helium für ein solcherart reduziertes Tankvolumen schien im Bereich des Möglichen. In dieser Sache profitierten wir zum Erstaunen aller von der Expertise Karl Tappens, der es fertigstellte, seinen ehemaligen Kollegen in Darmstadt mehrere Flaschen des Edelgases im Tausch gegen einige kleine Fotografien mit erotischen Posen junger Damen abzuringen. Den Herren war es möglich, kleinere Mengen Helium mit einer Sondereinfuhrerlaubnis nach Deutschland zu schaffen, indem sie es für die Erforschung und Behandlung verschiedenster Lungenkrankheiten deklarierten.
Diese neuen Möglichkeiten führten uns direkt zur Entwicklung eines weiteren Flugzeugtyps – des Mikrosperling. Die ehrenvolle Aufgabe des vormals menschlichen Piloten erfüllte in diesem stark verkleinerten Modell eine Ratte, die mithilfe einer Gummimanschette im Cockpit fixiert wurde und in unseren Protokollen dem verstorbenen von Höxter-Lüchtringen zu Ehren mit dem Kürzel HL– sowie einer fortlaufenden Nummer markiert wurde.
Ich erwähne dies, da mir zum damaligen Zeitpunkt die Notwendigkeit zum Einsatz dieser kleinen Piloten nicht unbedingt gegeben schien. Sie wurden jedoch auf Walters ausdrücklichen Wunsch in die Konstruktion integriert. Ich kann nur von Glück sprechen, nicht bis zu jenem Tag in dieses unglückliche Schauspiel interveniert zu haben, an dem einer dieser kleinen Helden uns das Zeichen unserer großartigsten Entdeckung zu verkünden im Stande war.
Zeitweise hatte unser Verschleiß an Versuchstieren enorme Ausmaße angenommen, da sie meist – einem auffällig schwachen Herzen geschuldet – unter den harten Anforderungen kapitulierten. Der Stress, dem die armen Tiere in unserem neuen Windkanal, bei Druckveränderungen und Beschleunigungsversuchen ausgesetzt waren, erschien mir bereits damals bedauerlich und ist rückblickend nur durch ihre bereits angedeutete, historische Bedeutung im weiteren Verlauf der Forschungen zu rechtfertigen. Walters konsequentes Beharren auf ihren Einsatz verdient besondere Beachtung. Denn er selbst nahm einmal wöchentlich die Reise zu einer Händlerin auf sich, die ihren Geschäften in einem nicht näher bezeichneten Winkel des Wahner Umlands nachzugehen pflegte. Einen mit Nagern gefüllten Eimer unter dem Arm kehrte er von diesen Einkäufen stets schlecht gelaunt zurück. Ganz so, als hätte er als Preis für die Tiere eines von ihnen zwischen zwei Brötchenhälften vertilgen müssen.