Ernst von Rheide hat Ihnen von seiner Zeit nach dem Krieg berichtet. Waren diese Berichte glaubhaft und konnte er sie beweisen?
Ja, ich empfand seine Schilderungen als sehr glaubhaft, auch wenn er sie lediglich durch einige Zeichnungen und Notizen zu untermauern suchte. Jedoch muss ich dazu auch erwähnen, dass die Stimmung zwischen uns geprägt war von Freude und dem Glück unverhoffter Wiedervereinigung und nicht vom grundsätzlichen Misstrauen eines Verhörs. Wir waren beide überwältigt vom Zufall, der uns beide an diesem Morgen wieder zusammengeführt hatte.
Wie er mir berichtete, hatte es Ernst auf einigen Umwegen nach Rügen verschlagen, wo er nun als Portrait- und Kunstmaler an der Binzer Promenade seinen Unterhalt bestritt. Zumindest teilweise, denn wie er auch erwähnte, sei wohl das Leben eines Künstlers auf Rügen in keiner Weise so zu verstehen, dass man in der Sonne zu liegen hat bis man ein paar barbusige Grazien zu zeichnen sich aufgefordert sieht, nur um die nächsten wilden Feste zu finanzieren. So oder so ähnlich formulierte es Ernst, nicht ohne einen gewissen Anflug von Scham, der wohl von seiner Unfähigkeit rührte, die Ernsthaftigkeit seiner Tätigkeit in vollem Maße darlegen zu können.
Wie er nach Rügen kam, berichtete er mir auch. Es fand bereits in seinem Abschiedsbrief Erwähnung, dass er sich aus Angst vor einer späten Gefangennahme und der allgemein unübersichtlichen Lage nach Kriegsende in Richtung seines elterlichen Guts im nördlichen Holstein abgesetzt hatte. Bereits auf halbem Wege, in Ostfriesland, wurde er allerdings von einem Freikorps aufgegriffen, das ihn wohl auf die ein oder andere Weise dazu brachte, mit ihren Zielen zu sympathisieren. Er schloss sich der kleinen Gruppe ehemaliger Soldaten an, mit denen er nun durch die friesischen Lande zog, um Kommunisten und Reichsverräter zu stellen. Nach einigen Monaten jedoch wurden er und seine Kameraden bei Jever in eine Hinterhalt gelockt, wobei fast das gesamte Trupp erschlagen wurde.
Ernst konnte sich mit Glück erneut absetzen und gelangte über Umwege nach Hamburg. Dort verbrachte er die Sommermonate ohne Obdach und verdiente sich ein Zubrot als Hafenarbeiter – und er begann wieder zu zeichnen. Seine Skizzenbücher füllten sich mit großen Kränen am Altonaer Hafen, mit kräftigen Matrosen und mit deren Geschichten von Abenteuern, exotischen Früchten und geheimnisvollen Frauen in fernen Ländern. Eines Tages packte ihn erneut die Reiselust und er heuerte auf einem kleinen Dampfer an, der ihn bis nach Binz brachte.
Als ich ihn nach jener Narbe fragte, die ihm nun über sein rechtes Auge lief und die in Köln-Wahn mit Sicherheit noch nicht dort ihren Platz hatte – eine spannende und vielleicht sogar heitere Anekdote erwartend – antwortete Ernst verhalten. Es wäre nicht alles leicht gewesen in den letzten Jahren. Das wenigste, müsste er zugeben, könne er rückblickend als gelungen bezeichnen. Nun aber wäre er froh, dass ihn das Schicksal nach Rügen getragen hätte, wo er leben konnte, besser als an vielen anderen Orten und sich zwar Sorgen um die Zukunft im Ganzen, doch zumindest keine Sorgen um sein unmittelbares Leib und Leben zu machen hatte.