„Es gibt formale Ähnlichkeiten zwischen Ästen und Antennen. Die Formen sind ähnliche. Wenn keine Blätter an den Bäumen sind, kann man das in den kahlen Baumkronen erkennen, die über mir ineinanderragen. Sie sind von unten aufgrund der perspektivischen Überlagerung nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern nur als ein sich verschiebendes Geflecht. Die Äste schieben sich ineinander und aneinander vorbei und überschneiden sich in immer neuen Mustern. Sie bilden Strukturen, die sich nicht wiederholen – es sind keine Muster, oder es sind doch Muster die einem Prinzip folgen, sich dabei aber nicht wiederholen. Allerdings ohne den Anspruch sich nicht zu wiederholen. Ein Baum ist ja keine Primzahl. Ich denke die deutlichste Eigenschaft eines Baumes ist nicht, dass er durch sich selbst teilbar ist, sondern dass er ein Baum ist und zwar vor allem weil er eine bestimmte Form hat. Die Form ist durch seinen natürlichen Wuchs, vor allem auch aus seinem Standort schon einzigartig, weil pro Standort nur ein Baum stehen kann und von dort aus viele kleine Verästelungen, knochige Passagen, gerade und gebogene Abschnitte dem, mit allen Bäumen gemeinsamen Fixpunkt Sonne entgegenwachsen. Er orientiert sich an ihr und ohne diese Orientierung würde er auch völlig anders aussehen. Am nächsten würde der Baum als Primzahl wohl der Primel kommen, aber das fällt mir nur auf weil der Name so passend wäre.
Man kann den ersten kleinen Sprössling noch am erwachsenen Baum sehen. Das heißt, der Baum schichtet sich nicht nach und nach auf, nicht wie ein Tropfstein, sondern erweitert sich von innen, dehnt sich aus und zwar immer auf der Basis des schon Vorhandenen, sowie des ihn Umgebenden. Es gibt eine Verbindung zwischen Baum und Sonne, aber auch zwischen Baum und Erdanziehung, Wind, Ameisen und Spechten, was nur deswegen auffällt, weil Bäume so statisch sind und alles über sich ergehen lassen. Sie bewegen sich nicht, sie bauen nur ganz langsam ihre Form aus. Diese Form als Ergebnis ihres Wuchses ist oft ein gutes Beispiel totaler Gleichmäßigkeit, ästhetisch perfekter Formen. Kein Ast ist zu nah am anderen, keine Seite erzeugt den Eindruck einer motivierten Gestaltung, alles folgt einem Gleichgewicht das mit Notwendigkeit, nicht mit Entscheidungen zu tun hat. Das ist insofern selbstverständlich, da ja ein Ast näher an den anderen herangewachsen wäre, wenn da noch Platz wäre. Aber wenn er nicht weiter gewachsen ist, dann entweder aus Platzgründen, oder weil der Baum von unten doch zu schnell nachwächst.
Auch der Waldweg wird keine Kurve zweimal beinhalten. Er schlängelt sich durch die unregelmäßig verteilten Bäume, die aber wiederum, es fängt an sich zu wiederholen, in gleichmäßigen Abständen, aber ohne erkennbares Raster nebeneinander stehen. Es ist ein Muster von Stamm und Krone, das sich doch immer wiederholt. Die Bäume sind nur schwer voneinander zu unterscheiden, da sie speziell in ihren Details voneinander abweichen, also nur im Verhältnis der verschiedenen Äste zueinander und ihrer konkreten Form, nicht in der grundlegenden Struktur oder der Tendenz ihres Wuchs. Endlich erkennt man das Ende des Pfades.
Dahinter liegt eine größere Freifläche aus mehreren Koppeln. Sie sind durch Zäune voneinander getrennt und in der Mitte, in einer Senke, liegt ein kleiner Teich oder ein Wasserloch, das im Winter normalerweise zugefroren oder ausgetrocknet ist. Auf der anderen Seite verschmelzen die gleichmäßigen Silhouetten aus Stämmen und Kronen in ihrer Summe zu einer unregelmäßigen, aber gleichmäßigen Oberfläche. Beide Waldränder unterscheiden sich in Details. Auf der einen Seite stehe ich am Rand des Waldes, sehr klein, aber wohl doch zu erkennen in einem gelben Windbreaker. Auf der anderen Seite als einziges Objekt mit geraden Linien in der gesamten Umgebung ein riesiger Sendemast, fast ein Funkturm. Der Turm steht da schon seitdem ich hier in dieser Ecke lebe und ich habe bestimmt unzählige Fotos zuhause, auf denen dieser Mast mit drauf ist. Das liegt einfach daran, dass der Mast so groß ist, dass er immer irgendwie im Bild ist, wenn man Dinge hier in der Umgebung aus einem bestimmten Winkel fotografiert. Ich kenne ihn schon sehr lange, obwohl ich nicht genau weiß, und mich auch eigentlich nie gefragt habe, was er genau sendet.
Es gibt eine Verbindung zwischen diesem riesengroßen, pfeilförmigen Sender und den unzähligen, darunter liegenden, ungeraden, aber in der Summe gleichmäßigen Bäumen. Ich habe darüber noch nie nachgedacht, aber der Unterschied zwischen Funkwellen und der Baumdecke ist lediglich, dass der Wald nicht groß genug ist, damit die komplexen Formen der Baumwipfel irgendwann zu einem Rhythmus werden. Eine Baumdecke müsste so groß sein, dass sich allein aus der Varianz ihrer unterschiedlichen Kronen eine wellenförmige Oberfläche ergibt. Wenn die Anzahl der Bäume gegen unendlich tendiert, dann gibt es im Wald nicht nur jede mögliche Wuchsform, die Formen beginnen auch sich zu wiederholen. Hier beginnt die Regelmäßigkeit, die Amplitude aus der Individualität eines Baumes zu entstehen und ein Muster kann sich entfalten. Mitten in einem solchen unendlichen Wald gibt es diesen einen Baumtyp, der in der Summe aller Möglichkeiten genau symmetrisch gewachsen ist. Vier gleiche Äste auf allen vier Seiten, mit mathematisch konstanten Abständen zwischen den Gabelungen und gleichen Winkeln in jeder Astkuhle. Das ist die Antenne. Das ist der organische Sendemast. Sein weißes Rauschen ist die Summe seiner möglichen Wuchsvariationen. Jede Abweichung von diesem Rauschen ist eine Botschaft, die entschlüsselt werden kann. Jeder real existierende Baum steht in einem Verhältnis zum Antennenbaum, durch seine Abweichung vom optimalen Wuchs. Die Abweichung ist zwar für jeden Realbaum individuell, trotzdem könnte jeder Baum als Variante des Antennenbaums betrachtet werden. Es braucht den Antennenbaum gar nicht wirklich zu geben. Allein die Möglichkeit, dass es ihn geben könnte, bietet uns die Chance an eine Botschaft im Rauschen des Waldes zu glauben.
Durch die Idee, es könnte eine Abweichung in diesem Rauschen geben, eine Abweichung von der optimalen Verteilung die entschlüsselbar wäre, bekommen Bäume einen aktiven Part, etwas explizit nicht Neutrales. Etwas, das gemacht worden ist kann nicht neutral sein. Etwas, das selber macht noch weniger. Ein Baum der vorher als Summe seiner Umwelteinflüsse, als sukzessive Weiterentwicklung seines eigenen kleinen Sprösslings gelten konnte, bekommt etwas zutiefst künstliches. Etwas sehr, sehr konstruiertes, motiviertes und damit bedrohliches. Ich kann dem Baum seine passive Gleichmütigkeit nicht mehr abnehmen. Es drängt sich auf, dass es einen zumindest potentiellen Grund für den Baum geben muss, das zu sein was er ist. Der Schatten eines unbekannten, komplexen Anderen schiebt sich zwischen mich oder uns als Menschen und den Wald. Nur eine dünne geschwungene Linie zwischen mir und dem Baum, die nicht zu überschreiten ist, solange sie nicht entschlüsselt wurde.“