Übersicht

Fig. 1

Fig. 2

Fig. 3

Fig. 4

Fig. 5

Fig. 6

Fig. 7

1.1 Vorwort

„Sehr geehrte Max Planck Gesellschaft, …“ umfasst eine Materialsammlung, die nicht nur eine Forschungseinrichtung adressiert, sondern deren doppeldeutige Anrede bewusst gewählt ist. Inhalt des Projekts soll eine Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft sein, deren Dialog nicht in gegenseitigen Einverständnissen, sondern in Schichten sich überlagernder und sich gegenseitig manipulierender Täuschungsmanöver stattfindet.

Überlegungen zum erzählerischen Potential von Dokumenten gaben den Anstoß für dieses Projekt, das seine Figuren über selbstverfasste oder an sie adressierte Unterlagen beschreibt. Ziel meiner Suche war darum eine Situation extremer Dissonanzen in der Wahrnehmung der beteiligten Personen, um die perspektivische Qualität der Aufzeichnungen auf bestmögliche Weise darstellen zu können.

Eine Gelegenheit zur Illustration dieser Idee fand sich 2007 in Hamburg im Zuge eines amourösen Abenteuers mit der jungen Assistenzärztin Annika von Stein. Sie erzählte mir von einem Patienten ihrer Abteilung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, dessen Krankheitsbild sich wie folgt darstellte: Ein Mann namens Stefan Schneider behauptete, auf eine Verschwörung Außerirdischer gestoßen zu sein. Seiner Meinung nach wurden Bäume auf der Erde nur gepflanzt, um über ihre Antennen-ähnliche Form Signale ins Weltall zu funken. Diese Paranoia motivierte den Mann zu einer größeren Zahl von Aufzeichnungen, Skizzen und Notizen, welche die Funktionsschemata der Funkbäume erklären sollten. Zwar wurden diese Informationen gefunden, der Patient wollte aber zum Zeitpunkt der Einlieferung nicht mehr über sie sprechen. Er musste durch Recherchen und verschiedene Täuschungsmanöver in eine Situation gebracht werden, die ihm eine gespielte, aber im Klinikumfeld reale Sicherheit vor Sanktionen der Außerirdischen garantierte.

Für meine Arbeit stellt diese Kooperation einen beispiellosen Glücksfall dar. Frau von Stein ist großer Dank für zahllose Denkanstöße und das zur Verfügung gestellte Material geschuldet. Am Beispiel dieser Unterlagen lässt sich ein Verhältnis von Patient und Gesellschaft illustrieren, das seine Relevanz und Aussagekraft der Unmittelbarkeit der Aufzeichnungen verdankt. Frau von Steins ausdrücklicher Wunsch, von einer wissenschaftlichen Publikation ebenso abzusehen wie vom Versuch einer journalistischen Enthüllung ist hiermit in der besten aller Möglichkeiten entsprochen worden.

Der vorliegende Bildband ist auch eine Anerkennung der ästhetischen Leistung Schneiders, die sich immer wieder vom wissenschaftlichen Anspruch der Unterlagen absetzt. Frau v. Stein und ich haben in zahllosen Sitzungen den großen Umfang an Material gesichtet und gemeinsam eine Auswahl getroffen, die eine aufeinander aufbauende Spirale von Täuschung und Selbsttäuschung im Fall Schneiders sichtbar macht. Diese Technik ist unserer Meinung nach als Therapieinstrument ungeeignet und seine Eignung speziell zur Behandlung psychischer Krankheiten mehr als umstritten, was die Motivation zur gemeinsamen Arbeit an diesem Buch maßgeblich beeinflusst hat. Diese Zusammenarbeit macht es nun möglich, am Schicksal des Patienten Schneider die soziokulturellen Realitäten zeitgenössischer Psychotherapie zu untersuchen. Ihrem Bezug auf gesamtgesellschaftliche Phänomene, sowie ihrer Illustration eines ambivalenten Realitätsentwurfs, trägt die vorliegende Publikation nach bestem Wissen und durch unermüdliches Engagement aller Beteiligten Rechnung.

Das Buch beginnt mit der Transkription eines Monologs, den Frau von Stein vom Patienten im Jahre 2008 vermittelt bekam und aus dem Gedächtnis rekonstruiert hat. Sie kann darum nicht für sich in Anspruch nehmen eine authentische Aussage Schneiders wiederzugeben, erlaubt uns jedoch einen Einblick in seine Gedanken- und Assoziationswelt, die dem Leser den Zugang zum weiteren Buch erleichtern soll.

MS

1.2 Ein Mann steht im Wald

„Es gibt formale Ähnlichkeiten zwischen Ästen und Antennen. Die Formen sind ähnliche. Wenn keine Blätter an den Bäumen sind, kann man das in den kahlen Baumkronen erkennen, die über mir ineinanderragen. Sie sind von unten aufgrund der perspektivischen Überlagerung nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern nur als ein sich verschiebendes Geflecht. Die Äste schieben sich ineinander und aneinander vorbei und überschneiden sich in immer neuen Mustern. Sie bilden Strukturen, die sich nicht wiederholen – es sind keine Muster, oder es sind doch Muster die einem Prinzip folgen, sich dabei aber nicht wiederholen. Allerdings ohne den Anspruch sich nicht zu wiederholen. Ein Baum ist ja keine Primzahl. Ich denke die deutlichste Eigenschaft eines Baumes ist nicht, dass er durch sich selbst teilbar ist, sondern dass er ein Baum ist und zwar vor allem weil er eine bestimmte Form hat. Die Form ist durch seinen natürlichen Wuchs, vor allem auch aus seinem Standort schon einzigartig, weil pro Standort nur ein Baum stehen kann und von dort aus viele kleine Verästelungen, knochige Passagen, gerade und gebogene Abschnitte dem, mit allen Bäumen gemeinsamen Fixpunkt Sonne entgegenwachsen. Er orientiert sich an ihr und ohne diese Orientierung würde er auch völlig anders aussehen. Am nächsten würde der Baum als Primzahl wohl der Primel kommen, aber das fällt mir nur auf weil der Name so passend wäre.

Man kann den ersten kleinen Sprössling noch am erwachsenen Baum sehen. Das heißt, der Baum schichtet sich nicht nach und nach auf, nicht wie ein Tropfstein, sondern erweitert sich von innen, dehnt sich aus und zwar immer auf der Basis des schon Vorhandenen, sowie des ihn Umgebenden. Es gibt eine Verbindung zwischen Baum und Sonne, aber auch zwischen Baum und Erdanziehung, Wind, Ameisen und Spechten, was nur deswegen auffällt, weil Bäume so statisch sind und alles über sich ergehen lassen. Sie bewegen sich nicht, sie bauen nur ganz langsam ihre Form aus. Diese Form als Ergebnis ihres Wuchses ist oft ein gutes Beispiel totaler Gleichmäßigkeit, ästhetisch perfekter Formen. Kein Ast ist zu nah am anderen, keine Seite erzeugt den Eindruck einer motivierten Gestaltung, alles folgt einem Gleichgewicht das mit Notwendigkeit, nicht mit Entscheidungen zu tun hat. Das ist insofern selbstverständlich, da ja ein Ast näher an den anderen herangewachsen wäre, wenn da noch Platz wäre. Aber wenn er nicht weiter gewachsen ist, dann entweder aus Platzgründen, oder weil der Baum von unten doch zu schnell nachwächst.

Auch der Waldweg wird keine Kurve zweimal beinhalten. Er schlängelt sich durch die unregelmäßig verteilten Bäume, die aber wiederum, es fängt an sich zu wiederholen, in gleichmäßigen Abständen, aber ohne erkennbares Raster nebeneinander stehen. Es ist ein Muster von Stamm und Krone, das sich doch immer wiederholt. Die Bäume sind nur schwer voneinander zu unterscheiden, da sie speziell in ihren Details voneinander abweichen, also nur im Verhältnis der verschiedenen Äste zueinander und ihrer konkreten Form, nicht in der grundlegenden Struktur oder der Tendenz ihres Wuchs. Endlich erkennt man das Ende des Pfades.

Dahinter liegt eine größere Freifläche aus mehreren Koppeln. Sie sind durch Zäune voneinander getrennt und in der Mitte, in einer Senke, liegt ein kleiner Teich oder ein Wasserloch, das im Winter normalerweise zugefroren oder ausgetrocknet ist. Auf der anderen Seite verschmelzen die gleichmäßigen Silhouetten aus Stämmen und Kronen in ihrer Summe zu einer unregelmäßigen, aber gleichmäßigen Oberfläche. Beide Waldränder unterscheiden sich in Details. Auf der einen Seite stehe ich am Rand des Waldes, sehr klein, aber wohl doch zu erkennen in einem gelben Windbreaker. Auf der anderen Seite als einziges Objekt mit geraden Linien in der gesamten Umgebung ein riesiger Sendemast, fast ein Funkturm. Der Turm steht da schon seitdem ich hier in dieser Ecke lebe und ich habe bestimmt unzählige Fotos zuhause, auf denen dieser Mast mit drauf ist. Das liegt einfach daran, dass der Mast so groß ist, dass er immer irgendwie im Bild ist, wenn man Dinge hier in der Umgebung aus einem bestimmten Winkel fotografiert. Ich kenne ihn schon sehr lange, obwohl ich nicht genau weiß, und mich auch eigentlich nie gefragt habe, was er genau sendet.

Es gibt eine Verbindung zwischen diesem riesengroßen, pfeilförmigen Sender und den unzähligen, darunter liegenden, ungeraden, aber in der Summe gleichmäßigen Bäumen. Ich habe darüber noch nie nachgedacht, aber der Unterschied zwischen Funkwellen und der Baumdecke ist lediglich, dass der Wald nicht groß genug ist, damit die komplexen Formen der Baumwipfel irgendwann zu einem Rhythmus werden. Eine Baumdecke müsste so groß sein, dass sich allein aus der Varianz ihrer unterschiedlichen Kronen eine wellenförmige Oberfläche ergibt. Wenn die Anzahl der Bäume gegen unendlich tendiert, dann gibt es im Wald nicht nur jede mögliche Wuchsform, die Formen beginnen auch sich zu wiederholen. Hier beginnt die Regelmäßigkeit, die Amplitude aus der Individualität eines Baumes zu entstehen und ein Muster kann sich entfalten. Mitten in einem solchen unendlichen Wald gibt es diesen einen Baumtyp, der in der Summe aller Möglichkeiten genau symmetrisch gewachsen ist. Vier gleiche Äste auf allen vier Seiten, mit mathematisch konstanten Abständen zwischen den Gabelungen und gleichen Winkeln in jeder Astkuhle. Das ist die Antenne. Das ist der organische Sendemast. Sein weißes Rauschen ist die Summe seiner möglichen Wuchsvariationen. Jede Abweichung von diesem Rauschen ist eine Botschaft, die entschlüsselt werden kann. Jeder real existierende Baum steht in einem Verhältnis zum Antennenbaum, durch seine Abweichung vom optimalen Wuchs. Die Abweichung ist zwar für jeden Realbaum individuell, trotzdem könnte jeder Baum als Variante des Antennenbaums betrachtet werden. Es braucht den Antennenbaum gar nicht wirklich zu geben. Allein die Möglichkeit, dass es ihn geben könnte, bietet uns die Chance an eine Botschaft im Rauschen des Waldes zu glauben.

Durch die Idee, es könnte eine Abweichung in diesem Rauschen geben, eine Abweichung von der optimalen Verteilung die entschlüsselbar wäre, bekommen Bäume einen aktiven Part, etwas explizit nicht Neutrales. Etwas, das gemacht worden ist kann nicht neutral sein. Etwas, das selber macht noch weniger. Ein Baum der vorher als Summe seiner Umwelteinflüsse, als sukzessive Weiterentwicklung seines eigenen kleinen Sprösslings gelten konnte, bekommt etwas zutiefst künstliches. Etwas sehr, sehr konstruiertes, motiviertes und damit bedrohliches. Ich kann dem Baum seine passive Gleichmütigkeit nicht mehr abnehmen. Es drängt sich auf, dass es einen zumindest potentiellen Grund für den Baum geben muss, das zu sein was er ist. Der Schatten eines unbekannten, komplexen Anderen schiebt sich zwischen mich oder uns als Menschen und den Wald. Nur eine dünne geschwungene Linie zwischen mir und dem Baum, die nicht zu überschreiten ist, solange sie nicht entschlüsselt wurde.“

2.1 Stefans Brief

2.2 Strukturelle Zeichnungen

2.3 Formen symmetrischen Wuchses

2.4 Schmalenbeck Notizen

2.5 Ihlendieksweg Notizen

2.6 Dokumentation von Birken

2.7 Proben von Tannennadeln

2.8 Projekt Meiendorf

3.1 Anschreiben der HALO Imaging Inc.

3.2 Fragebogen zur Einschätzung der wissenschaftlichen Tragfähigkeit

3.3 Zeichnungen aus der Therapie

3.4 Interview mit Dr. Volker Hasche in “Psychologie Heute”

4.1 Büro am Institut für strukturellen Biomagnetismus

4.2 Kais Raum

4.3 Ein Brief von Nicole

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Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, sondern nur den Hinweis, dass alles aus praktischer Notwendigkeit und zur Steigerung der Dramatik in eine Reihenfolge gebracht wurde. Die Geschichten für sich sind in ständiger Wiederholung gedacht. Jeder geschilderte Schlaf- und Wachzustand ist eine in sich selbst zurück führende Schleife, aus der es kein Entkommen gibt, außer dem unbewussten Übergang zwischen den Zuständen, der einer Zahlenfolge gleicht, die nicht zuende geführt werden kann – nicht, weil sie kein Ende hat, sondern weil das Ende nie erreicht wird.

Berlin, 28.2.2020

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Ihr erster Blick in die Straße, nachdem das Bewusstsein gekommen war, vermittelte ihr, dass etwas geschah, aber nicht warum und wie und wie es begann und sich fortsetzte wenn es aus ihrem Sichtfeld verschwand. Sie sah Menschen die miteinander sprachen, Dinge austauschten, sich an Wänden emporschwangen, auf Geräte kletterten, in Geräte hinein griffen. Menschen gingen, schlichen, fielen von einer Seite zur anderen, blieben liegen, gingen weiter. Sie verschluckten Dinge, banden sich Dinge an den Körper und steckten sie in andere Dinge hinein. Sie blickten aus Öffnungen heraus und gingen in Öffnungen hinein, verschwanden in ihnen halb oder ganz. Sie kamen zurück oder blieben ganz fort. Dies alles war kein Tanz, aber es folgte einen Rhythmus und einer Kontinuität, die sie bewegte, einen Fuß zu heben und sich im Flirren der Straße selbst einen Pfad zu suchen, auf dem sie einen Fuß vor den anderen setzte und langsam, langsam, langsam den Blick verschob, zu jeder Seite, um auf- sowie abwärts die Straße zu sondieren. Ihre Position verändernd, sah sie Menschen, die sich zuvor ihrem Blick entzogen hatten, aus Winkeln, die ihrem Blick zuvor versperrt gewesen waren. Andere Menschen verschwanden, wandten sich ab, wurden halb oder ganz aus dem Sichtfeld geschoben. Sie sah Körper, die ihrem eigenen entsprachen und ihr zu erzählen schienen, in tausend Varianten, wozu dieser Körper im Stande sein kann, wie man ihn zu nutzen hätte, und der erste Vorschlag, den sie übernahm war jener sich wiederholende Schritt nach vorn.

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Ein Mann wandelte nachts, wenn er schlief, auf eine Kreuzung in seinem norddeutschen Heimatdorf und blieb dort im Schlafanzug und ohne Schuhe stehen. Laut und im hellsten Sopran begann er eine Melodie zu singen, welche er bis zu fünf Stunden wiederholte und variierte und die, obwohl sehr stimmig in Ton und Takt, die Nachbarn zur Verzweiflung trieb. Regelmäßig kam die Polizei hinzu und stand gemeinsam mit den Anwohnern ratlos am Rande der Kreuzung, in deren Mitte der schlafende Mann lauthals sang. Sie zogen sich dann aufgrund der Lautstärke in eine Seitenstraße zurück um zu beratschlagen was zu tun sei – was nicht leicht fiel, denn jedes Mal, wenn sich jemand dem Mann näherte, etwa um ihn nach Hause zu begleiten, ihn zu wecken oder anderweitig zum Schweigen zu bringen, wand der Mann seinen Kopf in Richtung des Herantretenden und sang ihm mit solcher Kraft ins Gesicht, dass dieser von seinen Plan abließ und sich lieber wie alle anderen Einwohner schlaflos im Bett wälzte, als dem Mann noch einmal in solcher Art nahekommen zu müssen.

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Der zweidrittel Millionste Morgengrauen in Rom: Kurz nachdem er in seinem Bett erwacht war, stand er auf und ging ins Bad. Er schaltete das Deckenlicht nicht ein und bemühte sich nicht in die Dusche, denn er wusste, dass des keinen Strom gab und damit weder Licht noch warmes Wasser. Er zog die Kleidung vom Vortag an und trat auf die Straße. Blind, wie durch eine lang einstudierte Choreografie, spazierte er in weichen Bewegungen den Gehweg hinab durch Menschengruppen hindurch, über Ampeln und an Autos vorbei ohne ein einziges Mal den Schritt zu verlangsamen. Er passierte einen Obststand im Moment, in dem das Bein eines Tisches brach, auf dem Äpfel in Form einer Pyramide auslagen. In gleichmäßiger Verteilung sprang das Obst aufs Pflaster und ein Apfel rollte in seine rechte Hand, als er sie im Vorbeigehen nah an den Bordstein senkte und den Handteller öffnete.

Als er, unzähligen möglichen Ärgernissen ausgewichen, doch einmal von einem Passanten geschnitten und grob beleidigt wurde, konterte er diesen so schlagfertig, dass es seinem Gegenüber schamesrot die Sprache verschlug. Lachende und applaudierende Zeugen sowie einen perplexen Passanten ließ er zurück, als er sich wie ein Aal durch die Menge schlängelte und entfernte, ohne eine weitere Person zu berühren. Eine öffentliche Telefonzelle zu seiner Rechten klingelte. Er betrat das Häuschen und nahm den Hörer ab. Glücklicherweise konnte er nach kurzem Zuhören dem Menschen in der Leitung bei einem ernsten Problem helfen, das diesem schlimme Qualen bereitet hatte und zu dem er nun genau die richtigen, passenden Worte fand um den Leidenden aus der Krise zu führen. Nicht nur das: er fand Worte, von denen er sicher war, dass sie seinen Gegenüber erreichten, sie aufgenommen wurden und genau so verstanden wurden, wie er sie gemeint hatte.

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Ein Mann mit einem breiten Unterkiefer und weiten, roséfarbenen Hosen begann mit dem Bau eines Hauses, auf einem Grundstück, das an einer Ausfallstraße einer mittelgroßen Stadt gelegen war. In einer Ebene, in der wenig wuchs und oft die Sonne schien. Neben dem, mit einem Drahtzaun von der Umgebung abgetrennten Nachbargelände, auf dem vorproduzierte Becken für Swimmingpools ausgestellt waren – ähnlich einem Autohaus hinter den Glasscheiben einer großen Verkaufshalle und auf dem Hof drapiert. Dies war das letzte Gebäude an der Außengrenze dieses Randgebiets gewesen, bis mit dem neuen Hausbau begonnen wurde.

Allein und ganz mit sich selbst begann der Mann seine Tätigkeit an Ort und Stelle und setzte sie in den folgenden Wochen kontinuierlich fort, ohne eine einzige Pause zu machen. Er arbeitete sehr langsam, setzte Stein auf Stein, fuhr zum Baustoffhandel, kaufte Rohre und Kabel, verlegte diese, aß nebenbei, während er Zement mit der Bohrmaschine anrührte oder Isolierungen von den Litzen knipste. Er schlief häufig, jedoch nur sekundenweise und im Stehen, so wie andere Menschen blinzeln, um zwar seinen Bedarf an Ruhe zu stillen, ohne jedoch aus dem Rhythmus zu geraten in seiner langsamen, stetigen Arbeit.

Nach etwa drei Monaten, in denen er Tag und Nacht in kleinen Schritten Steine, Zement, Farbe, Kabel und Balken miteinander verbunden hatte und alles an seinem Platz war, begann er mit der Einrichtung. In kontinuierlichen Bewegungen schnitzte er sich ein Bettgestell mit vier langen Pfosten, an deren oberen Enden kleine Vögel saßen, die ihre Köpfe einander zuneigten, sich windende Würmer in den Schnäbeln, als wollten sie den Schlafenden in ihrer Mitte wie ein eigenes, frisch geschlüpftes Küken ernähren.

Dazu eine kleine Kommode, eine kleine Stehlampe und einen Teppich, den er nach alter Technik ohne Webstuhl per Hand zu knüpfen verstand. Er bildete ein Muster ineinander verschachtelter Dreiecke, das in solcher Art von den Fäden des Teppichs erzeugt wurde, dass man nicht unterscheiden konnte, ob auf dem Teppich Dreiecke zu sehen waren oder ob das Muster selbst da war, das eine Fläche bildete, die als Teppich genutzt wurde.

In diesem Zimmer, aus dem das Haus bestand, legte sich der Mann nun am Ende des letzten Tages in sein Bett, das es nun gab, nachdem er seine Hose in die kleine Kommode gelegt hatte und löschte das Licht.

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Es wurde einem Jungen unerträglich die Übergangsphasen seines Einschlafens und Erwachens nicht greifen zu können, nachdem er einen Film über die missbräuchliche Anwendung von Hypnose gesehen hatte. Ihm schien in diesen Momenten das eigene Bewusstsein zwischen den Händen zu zerrinnen und daher konditionierte er sich in folgender Weise: Wollte er schlafen, dann legte er sich das karierte Küchentuch seiner Mutter über die Augen und fixierte es dort während der gesamten Zeit seines Schlafes, bis er wieder erwachte. Er tat dies über Wochen und Monate, bis es ihm zur Gewohnheit geworden war, wie eine bestimmte Körperhaltung zum Schlafen einzunehmen oder Decke und Kissen auf eine einstudierte Art zu positionieren.

Tagsüber hing das Tuch weiterhin am Griff des Backofens, in der mit weißen Möbeln eingerichteten, weiß gekachelten Küche. Abends wurde das Tuchmuster zu einer visuellen Entsprechung jenes beruhigenden Moments aufkommender Bewusstlosigkeit, die den ersten Schritt in einen traumlosen Schlaf markiert. Ebenso wurde es zum Vorhang, durch den der Schlafende hindurch zurückkehrte, erwachend, in die sich dahinter befindliche, morgendliche Welt.

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In Nordfriesland, auf einer kleinen Hallig, bebaut mit einem einzigen Haus, lebte ein Mann, dessen Schlaf auf unergründliche Weise an den Lauf des Mondes und der Gezeiten gekoppelt war. So erwachte er immer genau dann, wenn der ihn umgebende Wasserstand gerade seinen höchsten Punkt erreicht hatte.

„Dann kann ich heute wohl nicht an Land fahren“,

dachte er mit Blick aus dem Fenster, zuckte mit den Achseln und setzte Teewasser auf. Draußen wehte der Wind und die Fensterläden klapperten.

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In einer Mappe in einer Tasche lagen Zettel, auf denen Reisen durch ein heute untergegangenes, mitteleuropäisches Reich beschrieben waren. Sie gehörten zu einem Mann jener Zeit, dem Nachts etwas sehr Ungewöhnliches widerfuhr:

Sobald die Sonne unterging, überkam ihn die Müdigkeit mit solcher Macht, dass er sich kaum wenige Minuten gegen sie wehren konnte. Wenn er wieder erwachte, befand er sich nicht mehr in dem Stuhl, in dem er zusammengesunken war oder am Rand jenes Platzes, an dem er liegen geblieben war. Er erwachte an einer vollkommen anderen Stelle. Manchmal erkannte er die Umgebung und konnte eine Verbindung herstellen zwischen beiden Orten, dem seines Einschlafens und dem des Erwachens. Häufig war ihm der Ort völlig unbekannt und erst durch Erkundigungen im Laufe des Vormittags wurde ersichtlich, welche Strecke der Mann nachts überwunden haben musste, um sich dort zu befinden wo er nun war. Teilweise waren diese Strecken deutlich länger als das, was er Nachts zu Fuß hätte überwinden können, was nicht nur bedeutete, dass er kaum schlafwandelnd diese Reisen unternahm, sondern auch, dass es ihm unmöglich war, durch eigene Anstrengungen wieder an den Ort zurückzukehren, an dem er zuletzt eingeschlafen war.Denn sobald die Sonne unterging, wurden alle nicht erreichten Reiseziele hinfällig.

In solcher Weise einer zwanghaften Wanderschaft ausgeliefert, verzweifelt und letztlich resignierend in sein Schicksal ergeben, begann er sich Orientierung und Sicherheit zurückzuerobern, indem er jene Distanzen, die er auf unerklärliche Weise zurücklegte, mit Leben füllte. Er erfand die Verläufe seiner nächtlichen Reisen mitsamt den Menschen, die er auf diesen Wegen traf, mit den Tieren die er sah, mit Städten und Landschaften die er durchschritt.

Er beschrieb die Hindernisse, die er überwand und welche Hilfe er dabei erfuhr und wo er seinerseits Unterstützung geben konnte, wo er Bestätigung erhielt und Enttäuschungen zu erleiden hatte.

Diese Reiseberichte ergänzten das Land, von dem er nur tageweise Flecken zu sehen bekam, um jene Zwischenbereiche, die er nie sah oder nie erinnerte. Er sammelte die Berichte in einer Tasche, die er sich um den Hals hängte, denn schon öfter war es ihm passiert, dass er wichtige Utensilien an seinem morgendlichen Lager nicht finden konnte, die er Nachts zuvor noch besessen hatte.

Im Laufe der Zeit begann er daher, neben seinen eigenen Reisen auch die Geschichten und Schicksale jener Objekte aufzuzeichnen, die ihm im Schlaf abhanden gekommen waren: wie er sie verliehen, gespendet oder verkauft hatte, wie sie ihm gestohlen wurden oder er sie aus Achtlosigkeit oder Pech verloren hatte. Er folgte ihnen im Geiste, um zu erfassen, wo sie sich befanden, bei wem und in welchem Zustand, und in welche Ereignisse sie verwickelt wurden. Aus diesen Beschreibungen entwickelte sich ein Katalog von Bewegungen, Verbindungen und Verhältnissen zwischen ihm selbst, Orten, Menschen und Objekten, die um ihn herum metastasierten und ein feines Netz bildeten, das sich über das ganze Land legte.

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Nach 4350 Stunden pausenlosen Lernens hat sich die Lernende, eine Frau aus den Anden Guatemalas, schlafen gelegt. Manche Menschen lernen in kleinen Einheiten. Andere schieben alles vor sich her und lernen lieber so viel wie möglich auf den letzten Drücker. Sie lernt ausschließlich ohne Fristen und äußere Bedingungen, nur für sich, an einem langen Stück.

Stößt Sie auf ein Thema, das ihr Interesse erregt, dann vollzieht sie einen inneren Moduswechsel von unvorhersehbarer Dauer: Sie beginnt zu recherchieren und sich einzulesen. Tage- und Wochenlang folgt sie ununterbrochen Onlinekursen, Wikipedia-Artikeln und Blogeinträgen, in welche sie wie in die Gänge eines unterirdischen Baus vordringt. Das Thema breitet sich vor ihr aus wie die Momentaufnahme eines in Wachs gegossenen Ameisenstaats, der nicht nur in zahllosen räumlichen Verknüpfungen, Abhängigkeiten und Bedingungen zu erforschen ist, sondern dessen im stummen Modell nicht abbildbarer, geschäftiger Prozess der Summe aller am Bau beteiligten Tiere gleicht. Am Ende ihrer Recherche ist sie im Stande, jedes dieser Tiere einzeln seiner Eigenschaften und seiner Aufgabe nach zu benennen und die Entstehung des Baus, sowie seinen weiteren Verlauf nachzuvollziehen und darüber hinaus seine noch nicht gegrabenen Gänge und Hallen zwar nicht selbst zu schaffen, jedoch ihr entstehen zu prophezeien.

An diesem Punkt sieht sie, wie sich das Thema erschöpft, wie sie ermüdet und der Bann gebrochen ist. Nach einem langen Rausch durchgehenden Bewusstseins, in der sie ohne Pause und Ablenkung alle gedanklichen Fäden und Informationen im Kopf zusammengehalten hat, geht sie zu Bett.

Zuvor jedoch macht sie ein Foto von sich. Ein Portrait direkt von vorn, auf dem ihre Augenringe, der matte Blick, fahle Haut und eine sich nervös schiebende Unterlippe auf jenes Konstrukt hinweisen, das sich hinter der Stirn noch befindet und sobald sie sich schlafen legt langsam wieder auflösen wird, ganz so, als ob das Wachsmodell, gleichmäßig erwärmt seine Kontur verliert und unter seinem eigenen Gewicht zerfällt.

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Eine Frau, die als Entwicklerin für ein Carsharing-Unternehmen tätig war, schrieb im Traum Codeframente für die Reservierungssoftware, an der Sie tagsüber arbeitete. Sie entwarf und verwarf mögliche Lösungswege und ließ sie durch einen von ihr im Geiste erschaffenen Prozessor laufen. Sie kompilierte im Kopf die verschiedenen Sprachen, bis lange Ketten von Einsen und Nullen zu den untersten Windung ihres Schädels hinunter tropften und von dort wieder hinaufgelaufen kamen und sich erneut manifestierten. Wenn sie erwachte, hatte sie eine Entscheidung darüber getroffen, wie der Abschnitt strukturiert und geschrieben sein sollte. Morgens goss sie sich dann einen Kaffee auf und tippte ihre Ergebnisse ab – pro Anschlag ein Zeichen im Code, ohne eine überflüssige Bewegung. Zeile für Zeile, in routinierter Zehn-Finger-Technik, rasend schnell. Die reine Eingabe, das Setzen der Zeichen, das Speichern und Hochladen dauerte meist nicht länger als eine halbe Stunde. Danach legte sie sich auf die Couch und sah sich eine Morgensendung an, später Netflix-Serien. Im Sommer ging sie auch gern ins Freibad, legte sich dort unter einen Baum und las einen Fantasyroman.

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Ein Mann liegt auf einem Felsen und träumt, er sei ein Schwein. Flach über den Boden schiebt er seinen haarigen Bauch durch Büsche und über tote Blätter, morsches Holz und Kolonien von Pilzen an einer reich bewachsenen Stelle, nicht weit von seinem Schlafplatz entfernt. Er erkennt Bäume und Hügel in dem ihn umgebenden, unübersichtlichen und sich ständig wiederholenden Buchenwald. An einer Stelle, an der tiefe Furchen in den Boden gegraben sind, die niemals ganz austrocken und in denen zu jeder Zeit zumindest ein Rest Wasser steht, wälzt er sich und versucht die Insekten des Tages aus dem borstigen Fell zu vertreiben. Während das Schwein sich wälzt, erwacht der Mann. Er nimmt seine Keule auf und bewegt sich leise, auf ledernen Sohlen, zu jenen Furchen, die er eben noch im Traum selbst zum eigenen Wohlgenuss besucht hatte. Er sieht das Schwein sich noch wälzen, tritt heran und schlägt ihm mit der Keule den Schädel ein. Er verzehrt das Tier und fertigt sich aus seinem Fell eine Weste, dessen Kaputze aus dem oberen Teil des Wildscheinkopfes besteht, unter dem sein eigener Unterkiefer hervorschaut.

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In einem steinernen Kasten, in einer Höhle, unter einem Berg am Mittelmeer liegt ein Mann und schläft. Alle zweihundert Jahre erwacht er für einige Tage. Dann schiebt er die Platte beiseite, die seine Schlafstätte schützt und putzt sich den Staub von den Kleidern. Er verlässt den Keller, tritt unter die Sonne ins Freie und blickt in die Wolken, die keiner Erosion, keiner Rodung, Überbauung, Überflutung oder Überwucherung ausgesetzt sind und seit Millionen von Jahren in gleichen Formen variieren. Dann geht er zum Strand, unter Beobachtung aller Dinge, die um ihn herum passieren und deren Sinn er nicht immer versteht. Am Strand sucht er nach etwas, das er als Boot mit Rudern erkennt und schiebt es in einem unbeobachteten Moment ins Meer. Er rudert hinaus, schließt die Augen und lauscht der beruhigenden Gleichförmigkeit der Wellen, die ihn umgeben, die seit jeher in gleicher Form am Bootsrumpf gluckern und sich variieren in einer nicht unterscheidbaren und nicht wiederholbaren Form.

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In einer zukünftigen, sehr schnelllebigen Metropole legten sich viele Menschen, die einander wie Zwillinge waren, um 00:45 in ihre Kunststoffbetten und schliefen, wie jede Nacht, ganze vier Stunden.

Wenn sie erwachten, hatte sich die Stadt verändert: Neue Gebäude und Straßen waren entstanden und neue Ereignisse hatten stattgefunden, die sich zu neuen Redensarten, neuen Moden und neuen Verhaltensregeln weiterentwickelt hatten. Es war unmöglich, diese Entwicklungen innerhalb der verbleibenden zwanzig Stunden des folgenden Tages nachzuvollziehen um das Gestern mit dem Heute in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.

Die fehlenden Verknüpfungen förderten sehr komplexe Erklärungsversuche unter jenen Menschen, die zur selben Zeit diese Geschehnisse verpasst hatten. Im verzweifelten Bestreben, sich zu erklären, warum andere ihre Haare auf eine bestimmte Art trugen, fanden sie um 22:30 ein nachvollziehbares Muster darin, dass all jene, die heute mit dieser neue Frisur gesehen wurden, gestern eine Flasche Wasser gekauft hatten, sowie drei Stationen im Uhrzeigersinn durch das selbe Viertel mit der gestern dort noch vorhandenen U-Bahn gefahren waren.

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Ein Frau in einem grauen Tweet-Anzug konstruierte auf ihrem Hof in einer Scheune eine Maschine. Sie bestand aus zwei mechanischen Beinen, die durch eine kupferne Schale miteinander verbunden waren, mit Decken und Kissen ausstaffiert und von einer Glaskuppel geschützt gegen Wind und Nässe. Von dieser automatischen Sänfte ließ die Frau sich fortan durchs Land tragen. Das Schunkeln der, über unbefestigte Straßen mit beiden Beinen taumelnden Maschine wurde ihr dabei zur Gewohnheit – so wie ein Seemann, auf festem Grund stehend, eine merkwürdige Leere verspürt. Wenn sie nach langer Reise aus ihrer Maschine stieg, glaubte sie kurz den Tod zu streifen, im ersten Moment des Stillstandes, wenn sie in sich hineinfühlte und ihre eigene Trägheit dort spürte und keine weitere Bewegung, sondern nur die ganze Masse der unbeweglichen Erde unter ihren Socken.

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Im Garten eines Hauses, das in einer Reihe ähnlicher Häuser in einer Vorortsiedlung einer anderen, größeren Stadt lag, kniete jeden Abend ein Mann mittleren Alters vor einer großen Tanne. Er bemühte sich, seinen Kopf in ein Loch zu pressen, das sich zwischen den Wurzeln des Baumes auftat und das von innen mit getrockneten Tannennadeln weich gepolstert war. Mit sanften, verstörten Bewegungen drückte und schob der Mann seinen Kopf entlang der Wurzeln, die den Eingang des Lochs fest umspannten. Teils stundenlang probierte er sich an der glattgeriebenen, geflochtenen Struktur und drehte seine Schultern hin und her, als wäre es eine Frage der Körperhaltung, seinen Kopf in das Loch zu bekommen.

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In einem Labyrinth mit Wänden aus grün-weiß durchwachsenen Marmorplatten und einem Boden aus grauem Plastik läuft jemand im Traum umher, der ständig ein anderer ist. Erwacht die Person, die gerade noch mit den Händen die glatten, gemusterten Wände entlangstrich, nimmt ein anderer ihren Platz ein. Etwa ein Nachtwächter, der erst in der Früh zu Bett geht oder ein Menschen auf der ganz anderen Seite der Erde, wo gerade die Sonne untergegangen ist. So durchqueren viele Menschen diese Gänge, betrachten sie und prägen sich die Wellen und Knoten des Gesteins ein und den immer gleichen, anthrazitfarbenen Boden, der sich an jeder Stelle gegenüber dem Muster der Wände behauptet.

Wenn sich zwei Menschen treffen, in Barcelona in einem Kaffee, in Mali auf der Suche nach einem Schatz, in Tokyo am Flughafen, dann könnten sie sich gegenseitig fragen, ob sie dieses Labyrinth kennen und es gäbe Situationen in denen sich beide über bestimmte Eigenheiten der Wände unterhalten könnten und deren Verhältnis zum immer gleichen Fußboden.

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Eine Frau hatte immer den gleichen Traum: Sie steckte im Körper einer Busfahrerin in einer fremden Stadt. Nächtelang steuerte sie ihren Linienbus durch die taghell erleuchteten und hoffnungslos verstopften, langen Straßenzüge, vorbei an Haltestellen, Ampeln und Unfällen. Per Mikrofon maßregelte sie Fahrgäste, die sich quer auf die Bänke legten, mit ihren Taschen Sitze blockierten oder andere belästigten. Sie wartete auf alte Menschen, die zur Bushaltestelle liefen und half ihnen in den Bus. Sie stöhnte, wenn man ihr die Vorfahrt nahm, betätigte ärgerlich die Lichthupe und schnitt ihrerseits zu langsame und unsichere Autofahrer, die meist von außerhalb kamen und voller Widerwillen in den Innenstadtbereich gefahren waren.

Dies alles erlebte sie aus dem Körper der Busfahrerin, mit der sie trotz einer unwillkürlichen Distanz, die sie spürte, eine tiefe Selbstverständlichkeit verband, hier ihre Nächte am richtigen Fleck zu verbringen. Wenn Sie im zähen Verkehr durch das leichte Tippen des Gaspedals meterweise voran rollten oder wenn sie ihre Pausen am Ende der Buslinie im grünen Randgebiet der Stadt verbrachten, wo niemand je hinfindet, außer den Kollegen und vielleicht mal einem Betrunkenen, der im Bus eingeschlafen war und den die Fahrerin sich weigert zu wecken – in diesen Momenten fühlte sie sich mit der Busfahrerin allein und beinahe als Teil einer intimen Gemeinschaft. Dann hing sie ihren Gedanken nach, gemeinsam mit ihr im selben Kopf, ohne jedoch einander zu berühren und deshalb zweifelnd, ob die Verbindung auf Gegenseitigkeit beruhte.

Denn so, wie der Frau immer wieder Einblicke ins Gefühlsleben und die Gedanken der Busfahrerin gewährt wurden, die sie rührten und sie gleichermaßen auf sie herabblicken ließen, so hatte sie nie den Eindruck, andererseits von der Busfahrerin in gleicher Weise beobachtet zu werden. Es gelangen ihr nicht zu unterscheiden, ob sie wirklich ein stiller Gast im Kopf einer anderen war, die gar nicht wusste, dass sie jede Nacht besucht wurde. Oder, dass sie schlicht ignoriert wurde, wie fast alle Fahrgäste ignoriert wurden, die keiner gesonderten Hilfe bedurften.

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Ohne es selbst zu bemerken, hatte eine ältere Frau ganz aufgehört zu schlafen. Sie arbeitete statt dessen in einem Kiosk am Hauptbahnhof. In zumeist ereignislosen Nächten nahm sie die täglichen Zeitungslieferungen entgegen, füllte Kühlschränke auf und bugsierte Menschen wieder vor die Tür, die in ihrem Laden ziellos umherblickend einen Gesprächspartner suchten, da sie den Kiosk von außen mit einer Kneipe verwechselt hatten. Früh morgens, nachdem der erste Schwung Berufspendler wieder in die U-Bahnen verschwunden war, übergab die Frau den Laden an einen Kollegen, einen jungen Studenten, der unverzüglich begann die Kasse zu prüfen. Sie selbst ging heim, legte sich auf die Couch und zog sich eine orangene Wolldecke über den Kopf. Sobald sie lag und die Decke wie der Schieber eines Magic Boards über ihren Kopf geglitten war, konnte sie die Geschehnisse der letzten Stunden nicht mehr erinnern. Sie war dann der Meinung, gerade eben auf dem Sofa erwacht zu sein, auf dem sie schon wieder während eines Actionfilms um ungefähr halb elf eingenickt und in einen tiefen, traumlosen Schlaf geglitten war.

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Woran sie sich erinnert, ist der Schrank. Jede Nacht im Traum beobachtet sie, wie sie den Schrank zur Seite schiebt und die, sich dort an der Wand befindliche, verborgene Tür freilegt und öffnet. Dann tritt sie in den dahinter liegenden Raum und schließt die Tür. Von der Mitte des Zimmers aus sieht sie sich in diesem Raum verschwinden und die Tür schließen, so dass sie sich selbst nicht folgen kann.

Wenn sie morgens erwacht, erinnert sie weder die Tür, noch das Schieben oder das Betreten. Nur den Schrank. Sie käme nie auf den Gedanken, die Wand dahinter zu untersuchen, weshalb ihr die dort befindliche Tür verborgen bleibt. So verhält es sich auch mit dem benachbarten Raum, in den sie noch nie eine Blick geworfen hat und der sich ihr trotz ständiger Anwesenheit entzieht.

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Eine Frau, die in einer Hütte direkt am Strand lebte, wunderte sich zunehmend über ihr eigenes Zeitgefühl. Denn obwohl sie jeden Morgen in gleicher Art erholt und frisch erwachte, stand die Sonne, wenn sie morgens das erste Mal aus dem Fenster blickte, nie an derselben Stelle. Ihr Körper vermittelte ihr den Eindruck größter Regelmäßigkeit – die Sonne jedoch verwirrte sie, da sie mal im Aufstieg befindlich war am linken Rand der Bucht, mal im Zenit mittig über zahlreichen kleinen Schiffen, die kaum merklich auf der dünnen Linie des Horizonts entlang trieben, und mal fortgeschritten, bereits fast die Spitzen jener hohen Kiefern berührte, die Richtung Westen bis an den Strand heran gewachsen waren.

Jeden Abend ging sie zu Bett, sobald die Dunkelheit einen bestimmten, altrosafarbenen Findling verschluckte, der am Ende einer Steinmole vor ihrem Haus aus dem Wasser ragte und eine hellgraue Möwe, die sich hier gern ihr Lager zur Nacht bereitete, nicht mehr zu erkennen war, gegenüber dem dunklen Muster der Wellen. Dann zog sie den Vorhang aus grober Wolle zu und legte sich schlafen in ihrer Kammer, auf einer Matratze, die mit Seegras gepolstert war, zur Wand hingedreht, auf der linken Seite liegend.

Diese Rituale hatte sie sich geschaffen, um die Ängste in Zaum zu halten, mit denen sie aufgrund ihres abgeschiedenen Lebens zu kämpfen hatte. Kam die Nacht, so rückten die Wände in ihrer Hütte näher, als wollten sie ihr mit unsichtbaren Händen ein Kissen aufs Gesicht legen. Die von ihr wahrgenommenen Unstimmigkeiten steigerten dieses Gefühl der Bedrohung noch, da sie ihre Rituale störten und deren Wirkung untergruben.

Sie handelte wie folgt: In den Boden eines geflochtenen Eimers, der innen mit Teer abgedichtet war, bohrte sie ein kleines Loch und befestigte ihn, mit Wasser gefüllt, über einem zweiten Eimer gleicher Art. Über Nacht tropfe nun das Wasser gleichmäßig in den unteren Eimer, wo es sich sammelte und morgens in stets der gleichen Menge vorhanden war, wenn die Frau erwachte und fortan darin bestätigt wurde, dass ihr Schlaf entsprechend ihres Gefühls regelmäßig war.

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Jeden Morgen, wenn die Mutter erwachte, war sie eine ganz andere. Sie selbst bemerkte das nicht, da sie sich jeden Tag als die, die sie nun war, in einem Kontinuum zwischen Gestern und Morgen wähnte. Sie dachte, dass es nur sie gäbe und nicht noch tausende andere mit denen sie sich für jeweils einen Tag und unwiederholbar einen Körper teilte. Ihre Familie hingegen bemerkte dies sehr wohl. Daher schufen sie aus dem täglichen, gemeinsamen Abendbrot ein Ritual, zu dem sie stets diese Fremde an ihren Tisch luden, die sich selbst ihrer Fremdheit gar nicht bewusst war. Sie wurde bekocht und in Gespräche verwickelt und durfte aus ihrem Leben erzählen, ihren Plänen und auch von Dingen die sie belasteten und verfolgten. War das Essen beendet und alle bereit sich schlafen zu legen, waren die Verwandten entweder froh, dass der Tag vorbei war und sie sicher sein konnten diesen Menschen nie wieder sehen zu müssen, oder sie waren wehmütig, da sie schon jetzt wussten, dass sie die Person vermissen würden, mit der sie einen schönen Abend verbracht hatten. Wenn es ganz schlimm war und sie die neue Frau gar nicht gehen lassen wollten, dann führten sie ihren Gast vor eine Wand, um ein gemeinsames Foto zu machen. So gibt es im Haus dieser Familie ein Zimmer, in das die Fremde nie hineingelangt, da es vor ihr verschlossen wird, und in dem die Familienportraits an den Wänden hängen, die jeden der glücklichen Tage zeigen, die man gern wiederholt hätte.

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Ein Mann hatte jede Nacht den selben Traum, an den er sich auch immer wieder erinnerte und zu dem er gern zurückgekehrte, weil er ihn barg: Er fand sich auf einer Straße in Mitteldeutschland wieder, neben einer Bahntrasse und einer Tankstelle, die er nacheinander erkundete.

Er lief die Auffahrt hinauf zur Tankstelle und betrat das kleine Gebäude hinter den Zapfsäulen. Um nicht ziellos im Laden herumzustehen, wählte er aus der Kühlschrankzeile eine Dose Lipton Icetea und ging zur Kasse. Die Servicekraft weigerte sich jedoch, ihm die Dose zu verkaufen und nuschelte eine Begründung, die er nicht verstand. Von Scham gepackt verließ er das Tankstellenhäuschen und lief die Auffahrt hinab zurück zur Straße.

Die Bahntrasse, auf einem Wall gelegen, war in Bewegungslosigkeit erstarrt. Eine unerträgliche Ruhe kroch aus der Umgebung in sein Inneres, wenn er auf den Gleisen verharrte, da es nichts gab, was eine Verbindung zwischen ihm und dem Ort knüpfte und was seinen Aufenthalt berechtigte – Weder wartete er auf einen Zug, noch wollte er sich auf die Gleise stürzen, noch hatte er beruflich mit der Instandhaltung des Streckenabschnitts zu tun. Er und der Raum waren voneinander isolierte Einheiten. Nur fühlte er sich als Mensch zu diesem von Menschen gemachten Ort hingezogen und spürte seine eigene Verletzlichkeit, da diese Anziehung nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.

Hinter der Tankstelle befand sich ein Hochhaus, außen braun gemauert und schmutzig, innen mit hellgrünem Linoleum ausgelegt. Im Treppenhaus zog es ihn wie von selbst am grauen Handlauf hinauf. So gut lag die dunkle Plastikschiene in der Hand, dass er kaum bemerkte, wie er bis in den neunten Stock beinahe hinaufgeflogen war.

Dort im Flur stehend, fühlte er einen Schlüssel in der Jackentasche, der in das Schloss einer der Wohnungen auf dem Gang passte. Er öffnete die Tür und trat hinein in die dunkle, unmöblierte Wohnung.

Auf der anderen Seite des Wohnzimmers erwartete ihn ein großes, muskulöses Wesen mit vier Armen und langen Zähnen. Umgehend verwickelte es ihn in einen Kampf, in dessen Verlauf er jedoch nicht verletzt wurde, sondern immer wieder von den Wänden abprallte wenn er geworfen wurde. Er realisierte, dass es nicht schlimm war, dass er sich nicht gegen dieses Wesen wehren konnte und ergab sich ihm wie ein Gummiball. Nach einiger Zeit, die er sich gleichmütig der stumpfen Brutalität des Monsters ausgesetzt hatte, gelang es ihm, sich an die Wohnungstür zu klammern, sich durch diese hindurch auf den Flur zu drücken und das vierarmige Wesen in der Wohnung zurückzulassen. Auf dem Weg die Treppen hinab erwachte er – mal früher, mal später – aber immer bevor er das Treppenhaus im Erdgeschoss verlassen konnte.

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In einer mitteldeutschen Kleinstadt stand ein einzelnes hohes Haus aus braunen Klinkern. Die Wohnungen waren so versetzt angeordnet, dass sich auf jeder Seite in unterschiedlichen Stockwerken Balkone befanden, die mit gelben Markisen ausgestattet waren. In einer Wohnung im neunten Stock, im Wohnzimmer, stand auf einem beigen Teppich ein Röhrenfernseher, an den eine NES Konsole angeschlossen war. In der Konsole steckte eine Mortal Combat II Cartridge. Sonst war die Wohnung leer. Niemand wohnte hier.

Jeden Abend, nachdem die Sonne rot auf die Wände und in die rechtwinkligen Ecken der Wohnung gefallen war, schloss ein Mann die Tür auf und ein kurzer Streifen gelben  Flurlichts fuhr über die Wände, bevor sich die Tür hinter ihm schloss. Der Mann schaltete im Dunkeln den Fernseher an sowie die Konsole und spielte bis zum Morgengrauen. Bevor die Sonne aufging, wenn der Himmel vor dem Fenster einen düsteren, blauen Ton annahm, schaltete der Mann die Geräte aus und verließ die Wohnung, die nun über den Tag hinweg bis aufs letzte Staubkorn in genau jenen Zustand zurückfiel, in dem sie der Mann abends vorgefunden hatte und wieder vorfinden würde.

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Ein Mann verbrachte seine Tage damit, am Rand einer Halle zu stehen, die mit Fackeln beleuchtet war. In der Mitte des Raumes befand sich ein roter Teppich, was die Halle einem Thronsaal ähneln ließ und ihm eine klare räumliche Ordnung nach links und nach rechts gab. Auf dem Teppich bewegten sich zwei Gestalten vor und zurück: Ein maskierter Mann mitte vierzig, muskulöse Statur, grausames Lächeln, Sonnenbrille; und ein ockerfarbenes Weltraummonster, grob, ebenfalls muskulös, mit einem kleinen Pferdeschwanz am Hinterkopf und vier Armen. Wechselseitig fügten sich beide Wesen in ihren Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen teils grausame Verletzungen zu, ohne den Kampf je zu unterbrechen oder erkennbar zu leiden. Der gerade Schlagende äußerte dabei einen von drei Kampflauten, ergänzt von einem immer gleichen Geräusch des Aufpralls und einem Stöhnen des Geschlagenen, so dass eine, sich ständig variierende Abfolge von zehn unterschiedlichen Geräuschen das Geschehen begleitete.

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Zwei Männer sitzen in einem Raum, ein Glastisch zwischen ihnen. Dessen Beine bilden halb-ovale, matte Alustangen, die an ihrer spitzen Seite eine Nut haben, in die weitere Tischbeine oder Aktenschränke durch ein Verbindungsteil eingeklemmt werden können. Fensterseitig sitzt ein Mann, sehr dick, in einem braunen Anzug. Die Oberschenkel zerren am Stoff der Hose. Neben dem Fenster, das zu einer Schnellstraße hin liegt, hängt ein großes Gemälde. Eine Bauernszene. Frauen in Röcken umarmen Strohgarben, richten sie auf und tragen sie zu einem Wagen, der im goldenen Schnitt des Bildes steht.

Gegenüber sitzt ein hagerer Mann, Dreitagebart, hohe Wangenknochen, kleiner Mund. Er trägt einen Pullover der Marke „Le Coq Sportif“. Beide Männer sprechen wenig. Der Dicke zieht einen mehrseitigen Vertrag aus einem Ordner, schiebt ihn mit der flachen Hand über den Glastisch. Der andere unterzeichnet ihn auf der letzten Seite. Danach wandern die Papiere in eine Mappe identischer Verträge, in eine flache, eckige Plastikschale auf dem Tisch. Der dicke Mann holt ein Kartenlesegerät aus einem Regal am anderen Ende des Raums. Er kassiert 27€ und händigt die Kopie des Zahlungsbelegs aus. Diesen symbolischen Betrag nimmt er für die tägliche, notarielle Beglaubigung eines Testaments, das den Besitz seines Gegenübers an dessen Ich des nächsten Tages vermacht. Eine kleine Spleeingkeit, die vorspielt, Dinge zu regeln und so die Angst mit Hilfe einer rechtsverbindlichen Vereinbarungen in Schach hält.

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Wenn sich eine Frau schlafen legte, dann holte sie durch den Mund tief Luft und hielt ihren Brustkorb mitsamt der Luft gespannt. War sie eingeschlafen, dann ließ sie ihren Atem durch zusammengepresste Lippen langsam wieder entweichen, was einen durchgehenden, hohen Pfeifton erzeugte, dessen Frequenz sich über die Nacht immer weiter senkte, bis ihre Lungen gegen Morgen ganz geleert waren. Wenn sie erwachte, schnappte sie nach Luft, kurz vor dem Ersticken. Binnen Sekundenbruchteilen füllten sich ihre Lungen und sie begann normal zu atmen.

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Abends, wenn sie das Licht gelöscht hatte, kündigte sich durch leichtes Jucken auf ihrem Rücken folgendes an: Die starke Behaarung, die sich vom Nacken bis zum Steiß in einer ovalen Fläche über ihren Rücken erstreckte, begann zu wachsen. Nicht nur die Länge jedes einzelnen Haares veränderte sich, sondern auch dessen Umfang, so dass die Behaarung sich im Verlauf des späten Abends zu einem dichten, dunklen Stachelkleid formte. Das anfängliche Jucken steigerte sich mit zunehmendem Wachstum der Haare zu starken Schmerzen, wenn die Haarwurzeln sich in den Poren dehnten und diese strapazierten.

War das Wachstum abgeschlossen, lag sie im Bett, mit ihrem Igelkleid, in dass sie sich einrollte und langsam einschlief, wenn die Haut sich gewöhnte und das Gefühl von Geborgenheit überwog, in dieser stacheligen Kugel zu liegen.

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Ein Mann kehrt jede Nacht im Traum zurück auf eine steinerne Wendeltreppe, die er hinauf hastet. Vor ihm, immer eine Biegung voraus, ein anderer Mann. Er bemüht sich, ihn einzuholen, aber je schneller er läuft, desto schneller läuft der Unbekannte vor ihm. Von oben betrachtet kreisen Mann und Mann unablässig umeinander. Von oben betrachtet wird die Spirale des Treppenhauses zum Kreis.

Er weiß, dass er sich im Inneren eines sehr hohen Leuchtturms befindet, dessen Plattform er noch nicht erreicht hat. Große, leicht gebogene Quader aus Gummi mit hellen Fugen bilden die fensterlose Außenmauer sowie eine mittige Säule, an der sich die Treppe emporwickelt.

Er weiß nicht, wie es außerhalb der runden Mauer ausschaut. Er denkt auch gar nicht darüber nach. Es gibt keinen Außenraum. Zu hypnotisch sind die Schritte des Mannes vor ihm auf der Treppe. Mal sieht er den Saum einer dunkelblauen Jogginghose, mal die Ferse eines Sportschuhs, der sich quietschend vom Treppenabsatz löst.

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Ein Mann legt sich in sein Bett, das einem großen, länglichen Waffeleisen gleicht. Hat er sein Kissen zurechtgerückt, gerät das Bett in Bewegung und senkt den Deckel hinab auf seine Schultern. In gleichem Maße wie der Mann das Bewusstsein verliert, wird das Volumen aus seinem Körper gepresst, bis er tief und fest schläft und dabei so flach geworden ist wie ein Blatt Papier. Auf diese Art liegt er in seinem nun geschlossenen Bett als sein eigener Scherenschnitt und lässt sich durch das Muster des geriffelten Metalls eine neue plastische Form geben.

Erwacht er wieder, poppt der Deckel hoch, getrieben von dem sich ausdehnenden Körper, der wie unter Druckluft seine alte Form annimmt, so dass der Mann wenig später aufstehen kann. Noch ein wenig steif und geprägt vom Muster seiner nächtlichen Liegeposition ist der Mann in seinen Bewegungen einer frühen, computeranimierten Figur gleich, die nicht über eine innere Mechanik zu verfügen scheint, sondern durch das bloße abknicken und verschieben der Körperoberflächen bewegt wird. Erst im Laufe des Vormittags entwickeln sich seine Oberschenkel, Ellenbogen, Finger, Schultern und Wirbel zurück, so dass sie über Versteifungen, Gelenke und Muskeln miteinander verbunden sind und gemäß ihrer jeweiligen Eigenschaften zusammenspielen.

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Irgendwo am Atlantik auf einem Betondeich steht ein Hochhaus. Dort im 23. Stock sitzt eine Frau in einem Sessel am Fenster ihrer Wohnung. Sie blickt hinunter aufs Meer, wo das Licht der Sonne an tausend Stellen abprallt und in wieder tausend verschiedene Richtungen zurückspringt. Unzählige dieser Lichtstrahlen treffen sich im winzigen Punkt ihrer Iris, am Ufer, im 23. Stock hinter ihrem Fenster in ihrem Stuhl in ihrem Auge. Ein Glas ist bis zur Scheibe gerollt und hat eine halbmondförmige Spur dunklen Wassers auf dem Boden hinterlassen. Ein Teppich saugt Teile der Flüssigkeit auf wie ein Verdurstender, der auf dem Linoleum verendet.

Im Dämmerzustand betrachtet die Frau das Kontinuum flackernder Lichter. Sie verpasst nichts, wenn sie die Augen schließt. Hebt sie die Lider nach einiger Zeit erneut, setzt sich das Mosaik weißer Lichter an genau jenem Punkt fort, an dem es endete, als sie die Augen schloss. Das Glitzern fließt dahin in schmelzenden Mustern, die keine zeitliche Ordnung einhalten, obwohl Zeit verrinnt. Alles scheint einander anschlussfähig, als würde nichts die Bedeutung diese Bildes verändern können. Ein rätselhafter, fremder Morsecode, den zu dechiffrieren gar nicht relevant ist.

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Mitten in einer weiten und flachen Landschaft, die durchzogen war von Feldern, kleinen Baumgruppen und Knicks, die früher mal ein Wald gewesen waren, stand ein rotes Backsteinhaus mit einem flachen Dach. Das Haus stand allein und war durch einen Zaun eingehegt, der das Grundstück gegen die umliegenden Felder abgrenzte. Hinter dem Haus war ein kleiner Teich, keine fünf Meter Durchmesser, mit hohen Gräsern umrahmt, die einen pelzigen Kragen am Rand des Wassers bildeten.

Abends, wenn die Sonne rosa über die Felder schien, öffnete sich die hintere Tür des Hauses. Heraus kam eine kleine Frau in gebeugter Haltung. Sie war mit nichts als einem Handtuch bekleidet. In kurzen Schritten ging sie hinüber zum Teich, warf das Handtuch ab und stieg ins Wasser, an einer Stelle, an der die Gräser Platz für einen kleinen Steg gelassen hatten. Einen Meter vom Ufer entfernt war sie bereits bis zum Hals eingetaucht und verschwand kurz darauf ganz unter der Wasseroberfläche, die nur einige Bläschen und einen kleinen, sich ausbreitenden Ring von ihr zurückließ.

Die Frau sank im Teich die halbe Nacht. Tiefer und tiefer glitt ihr Körper in die vollkommene Dunkelheit. Sobald die Farben der Abendsonne sich verflüchtigt hatten, war alles schwarz und sie sah und spürte nichts, als das langsam an ihr vorbeigleitende Wasser. Zur dunkelsten Stunde der Nacht fand ihr Weg hinab ein Ende. Erst unmerklich, dann schneller bewegte sie sich in die entgegengesetzte Richtung, ohne das sie noch wissen konnte, dass es nach oben ging, denn Körpergefühl und Orientierung waren ihr ganz abhanden gekommen. Bei Sonnenaufgang durchbrach ihr Kopf die Wasseroberfläche, ganz unvermittelt, ohne, dass sie noch daran gedacht hätte, dass es diese gab und wie es sich anfühlte, ihren Rand zu durchbrechen.

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Jedes Mal wenn der Mann erwachte, stellte er nach einiger Zeit eine Differenz fest zwischen der Welt, die ihn umgab und jener des vergangenen Tages. Die Unterschiede waren verschiedenen Ausmaßes: Mal war der Präsident ein anderer als gestern, jedoch nicht über Nacht gestürzt, sondern seit Jahren oder Jahrzehnten im Amt. Oder die gesamte Abfolge vorheriger Herrscher war eine gänzlich andere. Oder der Regen war giftig, weshalb die Menschen in den letzten Jahrtausenden ganz andere Architekturen und Arten der Wasseraufbereitung erfunden hatten. Oder Gebirge, Länder und ganze Kontinente existierten nicht mehr, mitsamt der darauf ansässigen Kulturen.

Jede diese Veränderungen hatte große Auswirkungen auf die Menschen, die ihm begegneten und der Mann hatte eine helle Freude daran, sie kennen zu lernen und ihnen von den vergangenen Tagen zu erzählen, in denen die Welt eine andere gewesen war, auch wenn sie ihn für verrückt hielten.

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Ein Mann legte sich jeden Abend zum Schlafen nackt in die Badewanne und stellt sicher, dass der Stöpsel fest im Abfluss saß. War er eingeschlafen, begann sein Körper in eine gallert-artige Masse zu zerfließen bis er ganz aufgelöst war in einer formlosen, gelblich-transparenten Flüssigkeit, die still in der Wanne stand. Lediglich Körperteile, die er im Schlaf anspannte, erhielten ihren festen Zustand, als ob ihre Verkrampfung mit der weichen, fließenden Substanz des restlichen Körpers nicht vereinbar wäre. So trieb nachts, in der vollen Badewanne, im fahlen Licht des Mondes, manchmal ein Nacken, ein Bein, ein Penis auf der glatten Oberfläche, trieb an den Rand der Wanne und dann, wenn er dort geräuschlos abgestoßen wurde, in die andere Richtung weiter, bis der Morgen ihn mit dem restlichen Organismus wieder vereinte.

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In einem kleinen, unterirdischen Bau im Permafrostboden lag etwas, ähnlich eines Menschen und schlief. Es war noch nie aufgewacht und noch nie eingeschlafen. Es hatte kein Sein im wachen Zustand, keinen klaren Anfang und kein Ende. Möglicherweise unterstützten die niedrigen Temperaturen in der Höhle die lange, sinnlose Ruhe, in der das Menschenähnliche existierte. Dies und wie ähnlich es einem Menschen wirklich war, entzog sich aufgrund des andauernden Schlafes einer tiefergehenden Prüfung.

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Als sie dieses Morgens erwachte, hatte sie zum ersten Mal nicht das Gefühl aufgewacht zu werden. Es drückte sie nichts hinaus in die Welt, in die sie nicht wollte, in die sie nur deshalb gezwungen wurde hinüberzutreten, da ihre innere Welt kollabierte. Statt dessen fühlte sie, wie sie sich selbst gebärend die geäderte Bauchdecke durchstieß, welche sie aus Rücksicht, Furcht oder Liebe niemals als passierbar verstanden hatte. Wie ein kleines Monster mit Zähnen auf ihrer runden Zunge, wie eine lebende Schleifmaschine, schreiend und sich windend bahnte sie sich ihren Weg hinaus durch irreversible Zerstörung ihrer eigenen Geborgenheit. Mit ausgebreiteten Flügeln erwartete sie die Melancholie, und hüllte sie ein wie in eine orange-rote Decke, sobald sie angekommen war in der neuen Welt, und sich den Resten der Alten entledigt hatte.

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Durch das große Haus am Rand einer Stadt ist er nachts im Schlaf mit einem Seil geschlichen, durch alle Zimmer, auf der Suche nach seiner Mutter. Dann, als er sie fand im Schlafzimmer, in dem sie oft mit seinem Vater gelegen hatte, nahm er das Seil und wickelte es um ihren Hals. Er zog es fest und schlang es um den oberen Knauf des Bettpfostens, der so oft an die Wand gestoßen war, dass er einen kreisrunden Abdruck in der Tapete hinterlassen hatte.

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Im Allgäu lebte ein Mann, dessen Leben bestand in Folgendem: Er erwachte, streckte sich und blickte aus dem Fenster auf wunderschöne Berge. Dann nahm er eine Nagelschere vom Küchentisch, ging in den Garten und beobachtete die Rasenfläche. Sie fokussierend kniete er sich nieder, seinen Blick auf ein ganz bestimmtes Büschel gerichtet, das seine Aufmerksamkeit erregte. Aus diesem Büschel entschied er sich für einen Halm, der ihm besonders ins Auge fiel. Diesen Halm schnitt er an der Wurzel ab und trug ihn ins Haus und legte ihn auf ein Holzbrett in der Stube. Dann aß er einen Krümel zu Abend und legte sich ins Bett. Er schlief eine halbe Sekunde und erwachte, streckte sich und blickte erneut aus dem Fenster. Er nahm die Nagelschere und ging in den Garten.

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Nachts, wenn der Mensch eingeschlafen war, begann sein Körper den Raum freizugeben, den er tagsüber beanspruchte. Er fiel nicht auseinander, er wurde nicht unsichtbar, er löste sich einfach auf. Zurück blieb ein Volumen, das eigentlich sein eigener Körper ausfüllen sollte, das er nun jedoch der Welt als vakant überantwortete und das sich mit verschiedenen Gasen, Staub und Licht füllte.

Morgens, wenn er erwachte, musste sein Körper sich in gegensätzlicher Bewegung erneut sammeln und alles verdrängen, was über Nacht jenes Volumen für sich beansprucht hatte, das er zuvor freigegeben hatte. Langsam drückte der sich wieder materialisierende Körper alle fremden Partikel beiseite bis er ganz gewöhnlich im Raum lag und die Luft einsog, die er zuvor noch von sich geschoben hatte. War dies abgeschlossen, schlug der Mensch die Augen auf, als hätte er seinen Anspruch auf seinen Platz in der Welt niemals aufgegeben und als ob er sich dem Wunder nicht bewusst war, dass die Welt ihm diesen Raum Tag für Tag wieder zugestand.

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Inhalt

Prolog

Frage 1

Um ihren persönlichen Hintergrund besser berücksichtigen zu können, stellen wir ihnen zuerst einige Fragen zu ihrem Elternhaus. uns liegt als erstes Dokument eine irritierende Photographie ihrer jungen Person zusammen mit ihrer Mutter vor. sie ist jedoch nicht zu erkennen. Wie ist es hierzu gekommen?

Frage 2

Berichten sie unter welchen Bedingungen diese Aufnahme entstand. wie beurteilen Sie die Rolle ihrer Eltern in dieser Situation?

Eine solche Photographie entstand tatsächlich im Oktober des Jahres 1895. Ich war damals nicht ganz ein Jahr alt – was auch der Grund ist, weshalb mir die Details hierzu nicht aus erster Hand bekannt sind. Ich erinnere lediglich, auf dem Schoß meiner Mutter gesessen und in ein erschreckend schwarzes Loch geblickt zu haben. Die Entstehungsgeschichte dieser Aufnahme zählte jedoch zum steten Repertoire meiner Mutter, wenn es gefragt war, Anekdoten über meine früheste Kindheit zum Besten zu geben. Aus diesem Grund kann ich wohl einige Fakten beisteuern. Meines Wissens hängt das nämliche Foto noch heute im Treppenhaus meiner Eltern in ihrer Villa in Ehrenfeld.

 

Der Photograph trug den Namen Jakob Fürchtegott Lempke und er war, soweit mir berichtet wurde, aufgrund seiner tadellosen Arbeit recht angesehen in Köln. Deshalb wurde ihm auch die Ehre zuteil, mich als jüngstes Mitglied der Familie Orlovski porträtieren zu dürfen.

 

Gemäß den Berichten meiner Mutter hatte Lempke am Tag der Aufnahme einen Assistenten namens Wilhelm bei sich. Seine Aufgabe bestand darin, die schweren Einzelteile der Kameraausrüstung aus der Kutsche hinauf in unseren Salon zu schaffen. Eine äußerst unangenehme Pflicht, wenn man Größe und Gewicht der damals gebräuchlichen Kameras bedenkt. Als er mehrere Einzelteile zugleich die Treppe zu unserem Haus hinauf und durchs Eingangsportal schleppte, entglitt ihm ein großes, eisenbeschlagenes Dreibein aus Walnussholz und hinterließ beim Aufprall auf den Dielenboden eine recht tiefe Macke, an die ich mich auch aus meiner noch folgenden Kindheit sehr gut erinnere, da meine Mutter darin wiederholt mit ihrem Absatz hängen blieb und sich beinahe den Knöchel brach. Einmal musste sie sogar einen Verband tragen, das erinnere ich.

 

Im Versuch, den Sturz des Dreibeins aufzuhalten, ließ Wilhelm eine Kiste mit Porträtobjektiven fallen, die er auf der rechten Schulter balanciert hatte. Zahlreiche Linsen sprangen in Folge des Aufpralls aus ihren Fassungen und rollten über den Boden davon. Die Hälfte seiner Ausrüstung solcherart ramponiert vor sich, war Lempke gezwungen umzudenken. Er verwarf kurzerhand die geplanten klassischen Porträtaufnahmen des Kleinkindes, das ich war. Stattdessen schlug er ein breites Panorama vor, welches meine Mutter als blütenweiße, stille Felsenwand vor der sich wiederholenden Landschaft unserer aus Paris importierten Mustertapete zeigen sollte. In der Mitte ich, gelöst wie ein Bergsteiger im Moment einer kurzen Rast, den Ausblick betrachtend.

 

Die Decke, in die meine Mutter eingeschlagen wurde, hatte uns der damalige deutsche Kaiser Wilhelm II. anlässlich des vergangenen Weihnachtsfestes überbringen lassen. Als bedeutende Ausstatter des Deutschen Heeres waren meine Eltern schon damals Persönlichkeiten der Gesellschaft. Die Kaisertreue meiner Eltern war mir wohl vererbt worden, denn ich schlief umgehend ein im, mit royalen Falten überzogenen, Schoß meiner Mutter. Sie wissen wahrscheinlich wie man meinen Vater nannte? – Den Schraubenfürst von Köln.

Frage 3

3

Ihre Eltern spielen in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle. Gibt es andere Menschen, die in jungen Jahren eine Bezugsperson darstellten?

Ich hatte damals einen Onkel, er hieß Albert. Wir waren oft bei ihm zu Gast – besonders im Sommer. Denn er hatte einen sehr schönen Garten, nicht ganz eine Stunde von unserem Haus entfernt, am Rhein. Dort habe ich sehr glückliche Stunden mit seinem Hund Zeus verbringen dürfen, einem ausgesprochen treuen und genügsamen Golden Retriever. Ich würde noch heute behaupten, dass er mein liebster Freund zu dieser Zeit war und bis heute geblieben ist.

Die größte Freude kam auf, wenn uns erlaubt wurde zu zweit und fernab der Erwachsenen am Flussufer zu spielen. Dann postierten wir meine große Sammlung französischer Zinnsoldaten entlang des kurzen Strandes und schmuggelten anschließend in der Rolle preußischer Kuriere kleine Leckereien wie Himbeeren oder Kekse an den feindlichen Linien vorbei an Land.

Solcherart erfolgreich im Transportieren von Kleingut sah ich uns beide einen eigenen Kurierdienst eröffnen. Ich habe meinen Eltern einige Male den Wunsch unterbreitet, nach der Schulzeit Lieferjunge werden zu dürfen. Jedes Mal verpasste mir mein Vater daraufhin eine schallende Ohrfeige. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich irgendwann von meinen beruflichen Zielen absah. Darüber hinaus muss ich gestehen, recht unkonkrete – um nicht sagen zu müssen: gar keine Vorstellungen meiner Zukunft gehabt zu haben.

Lediglich ein ganz natürlich wirkendes Gefühl, dass mein eigenes Leben rein gar nichts mit den Erfahrungen, Errungenschaften und Erwartungen meiner Eltern zu tun haben sollte. Das hatte ich wohl schon sehr früh.

Frage 4

In unseren Unterlagen können wir keinen Onkel Albert finden. Wie verhält es sich mit dieser Personalie?

In der Tat war Albert Jankowski kein Onkel im familiären Sinne. Er war ein enger und langjähriger Freund meines Vaters Oskar aus jener Zeit, als er noch nicht als Schraubenfürst gefürchtet war, sondern eben gerade einen kleinen, hochverschuldeten Eisenwarenladen in der Kölner Innenstadt geerbt hatte.

Mein Großvater hatte dieses Geschäft um das Jahr 1863 gegründet und man konnte dort alles Erdenkliche kaufen, was aus Metall gefertigt wurde. Großvater Orlovski verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in diesem Geschäft. Wenn meine Eltern sich seiner in meiner Gegenwart erinnerten, dann erzählten sie stehts wie er in der Mitte seines Ladens stand – eine schwere, dunkelblaue Lederschürze übergeworfen – und grollte, dass ihm die Deutschen doch endlich bessere Kunden werden sollten. Seine Anklage verhallte jedoch zwischen all den Nägeln, Suppenkellen, Axtköpfen und Rohren. Der Familienbetrieb war in schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis, als mein Vater schließlich seine Nachfolge antrat. Die innerstädtische Konkurrenz im Kölner Eisenwareneinzelhandel war zu jener Zeit ausgesprochen stark. Es war ihm zwar möglich uns von den dürftigen Einnahmen zu ernähren, immer öfter jedoch konnte er die Ladenmiete nicht aufbringen. Man kann sich vorstellen, wie verzweifelt er gewesen sein muss. Später erfuhr ich, dass aus dieser Zeit jener Revolver stammte, den er in seiner Schublade aufbewahrte, in ein violettes Tuch eingeschlagen und mit fünf Messingpatronen bestückt. Einige Male holte ich ihn später heraus, um ihn anderen Knaben zu zeigen, die uns besuchten.

Der Zufall wollte es, dass eben jenes Haus, in dem sich der Betrieb unserer Familie seit Jahrzehnten befand, in den Besitz von Albert Jankowski überging. Ihm war dieses Wohnhaus von seinem Schwiegervater im Zuge seiner Eheschließung mit Johanna-Luise Buttermann – einer Kölner Bankierstochter – anvertraut worden. Als Sicherheit für das junge Paar. Albert sah sich damals in einer verzwickten Situation, die so gar nicht zu seinen politischen Überzeugungen passen wollte. Er selbst war seit einiger Zeit beseelt von der Vorstellung internationaler Solidarität und bemerkte zunehmend einen Widerspruch zwischen seiner eigenen Tätigkeit als Angestellter des Bankhauses Buttermann und jenen frischen Ideen, die seinerzeit Kapital und Gesellschaft miteinander zu versöhnen suchten.

Er trug stets einschlägig bekannte und berüchtigte Schriften in seiner Aktentasche mit sich herum und verbarg sie zwischen Butterbrotdose und zahlreichen Papieren vor den Ordnungshütern und seinem Schwiegervater, dem er in dieser Sache nicht allzu viel Vertrauen schenkte.

So akkumulierte Albert im Stillen Vorwürfe und moralische Fragen, für die er zunehmend verzweifelt ein Ventil suchte. Als er von Oskar Orlovskis misslicher Lage erfuhr, fiel all die Grübelei auf einen Schlag von ihm ab und freudig begann er ein Exempel zu statuieren: Kurzerhand erließ er Oskar – zum großen Ärger der Buttermanns – die ausstehenden Mieten und befreite ihn zusätzlich von jeglichen zukünftigen Zahlungsverpflichtungen solange, bis der Betrieb ein ordentliches Auskommen versprechen ließe.

Um mich kurz zu fassen: Die neuen Umstände und die sich ihm bietende Gelegenheit messerscharf erfassend, stürzte sich mein Vater in einen ruinösen Preiskampf mit der Kölner Eisenwarenbranche. Im Zuge dieses, später als „Kölner Schraubenschwemme“ bezeichneten, Feldzugs, war es meinem Vater am Ende des Jahres 1898 gelungen, einen Großteil seiner Konkurrenten im Innenstadtbereich in den Bankrott zu drängen und den örtlichen Handel mit Eisenkleinwaren unter seine ausschließliche und alleinige Kontrolle zu bringen.

Diese Geschichte vom Aufstieg der Familie Orlovski erzählt man sich noch heute, freilich in verschiedenen Variationen – je nachdem, welche der damals beteiligten Parteien man fragt. Wie Sie sich denken können, habe ich aufgrund dieser Vorgänge so manches Mal Prügel bezogen oder Schlimmeres angedroht bekommen, wenn ich als Knabe durch die Stadt marschierte um Besorgungen für meine Eltern zu erledigen oder Freunde zu besuchen.

Ich kann nicht sagen, ob mir am Ende ein erfüllteres oder leichteres Leben vergönnt gewesen wäre, wenn mein Vater nicht zum größten Lieferanten für Bolzen und Nieten Preußens aufgestiegen wäre. Diese Fragen betrachte ich als müßig. Ich bin jedoch überzeugt, dass diese Erfahrungen tiefster Feindschaft bereits in meiner frühesten Kindheit Prägungen in meinem Wesen hinterlassen haben. Auch in späteren Jahren, als ich jeden Grund gehabt hätte einen Stolz auf meine Arbeit zu entwickeln, spürte ich diese Eindrücke als schwersten Ballast, so dass es mir vorkam, als würde mir, immerzu wenn ich mich voller Stolz aufblähen wollte, ein eiserner Ring um die Brust gelegt, der mir nicht nur die Luft nahm, sondern auch meine Schultern, mein Haupt und mein ganzes Sein tiefer und tiefer zog.

Frage 5

Im Mai 1912 haben Sie eine Ausbildung als Industriechemiker begonnen, zu welcher uns keine Zertifikate vorliegen. Warum haben sie nie einen Abschluss erworben?

Es trifft zu, dass ich nie eine Ausbildung beendet habe. Und ich muss wohl einräumen, dass nicht nur zahlreiche Einflüsse der neueren Geschichte, sondern auch ich selbst immer wieder ein würdiges Ende in dieser Sache hinausgezögert habe. Nicht nur, dass die Ausbildung selbst mich langfristig zu fesseln vermochte, auch lernte ich Menschen kennen, die zurückzulassen mir an der Schwelle zur Berufswelt unmöglich erschien.

Aber um vom Anfang zu erzählen: Seit der Unterprima war es meinem Vater eigen, in passenden und unpassenden Momenten Vorträge über meine berufliche Zukunft zu halten. Seine Ansichten, meinen Nutzen für das Unternehmen betreffend, wechselten über Monate hin und her und es war unvorhersehbar, mit welcher Idee er als Nächstes aufwarten würde. Bis eines Abends im Herbst 1911 eine Entscheidung bekannt gegeben wurde. Es war bereits dunkel und wir saßen im Speisezimmer zum Abendbrot beisammen.

Mein Vater zirkelte in bester Laune mit seiner Gabel durch die Luft, während er mich über meine Zukunft in Kenntnis setzte, damit ich die Chance erhielt, sie freudig zu erwarten. Dass er eine Entscheidung getroffen hatte, muss als regelrechte Erlösung verstanden werden. Hatte er das grundlegende Dilemma doch bereits seit Jahren absehen können: Es war offensichtlich, dass ich als künftiger Firmenerbe weder über den erforderlichen Charakter, noch die Motivation zur Führung des Orlovski-Imperiums verfügen konnte. So bereitete ich meinem Vater ein ums andere Mal schlaflose Nächte, in denen er mit seiner Pfeife durch den Garten kreiste wie ein übergroßes, dampfendes Irrlicht und über Möglichkeiten sann, meine Zukunft strategisch klug zu gestalten. Es hatte jedoch einen besonderen Grund, dass er letztendlich auf eben diese Lösung stieß.

Einige Monate zuvor war ihm eine Nachricht zugetragen worden, die durchaus als alarmierend zu bezeichnen war. Nach Aussage eines bezahlten Informanten begann man sich innerhalb der Deutschen Heeresführung zaghaft für die, in diesen Jahren neu aufkommende Acetylen-Sauerstoff-Schweißtechnik zu interessieren. Neutral betrachtet wäre dies sicherlich keine schlechte Entscheidung gewesen, da diese Art der Fertigung schneller, einfacher und damit auch günstiger in bereits vorhandene Produktionsprozesse einzubinden gewesen wäre. Nur brachten sie den entscheidenden Nachteil mit sich, keine Nieten und Bolzen mehr zu benötigen. Und die Lieferung eben dieser Teile bildete einen nicht zu unterschätzenden Teil des Orlovskischen Jahresgeschäfts.

Wochenlang setzte Oskar alle Hebel in Bewegung, um die marktführenden Gaslieferanten zu diskreditieren, die für ihn mit einem Schlag zum Erzfeind avanciert waren. Ein tragischer Unfall auf dem Gelände der Münchner Linde-Werke, dem acht Mitarbeiter zum Opfer fielen, brachte ihm schlussendlich das entscheidende Argument. Der Kaiser persönlich intervenierte. Erneut hatten zweifelhaftes Glück und Seilschaften unsere Familie vor einem finanziellen Absturz bewahrt.

Im Nachklang dieser Rettungsmaßnahmen war in Oskar jene seine Entscheidung gereift. Ein zweites Standbein erschien ihm nun auf lange Sicht unumgänglich. Warum also nicht den eigenen Sohn in dieser neuen und aufregenden Arbeitswelt des Industriechemikers installieren? Wenn schon nicht als Unternehmer zu gebrauchen, konnte ich in seinen Augen immerhin einen passablen Laboranten abgeben.

All dies wurde mir im Zuge jenes reichhaltigen Gulaschmahls mitgeteilt. Wir konnten in diesen Wochen einen neuen Koch bei uns willkommen heißen. Sein Name war Heinrich, er kam aus Berlin und sein Willkommensgeschenk war ein anstandslos zubereitetes, zartes Gulasch Potsdamer Art. Während ich also immer neue Details meiner zukünftigen Ausbildung erfuhr, trug Heinrich das Essen auf, räumte wieder ab und brachte den Nachtisch in Form eines alkoholhaltigen Wackelpeters – ebenfalls Berliner Art –, der mich ein wenig benommen werden ließ. Unter dem Eindruck dieser berauschenden Süßspeise, fügte ich mich anstandslos in die mir unterbreiteten Pläne.

Auch mir war bewusst, dass ich niemals über jene autoritäre Aggressivität meines Vaters verfügen würde, mit welcher er Arbeiter, Geschäftspartner und Behörden gleichzeitig in Schach zu halten im Stande war, um die Interessen unseres Unternehmens unter allen Umständen durchzusetzen. Zu keinem Zeitpunkt wäre ich überdies ein guter Schraubenverkäufer geworden. Es war offenkundig, dass ich in jeder Facette meines Wesens mit dem Wunsch nach Rückzug erfüllt war. Und so begann ich recht schnell, eine Zukunft im Labor als Chance zu verstehen, ein Leben in Ruhe und Frieden führen zu dürfen, während andere sich dem täglichen Kampf ums Überleben stellen mussten. Welch einem Irrtum ich hier aufgesessen war!

Zuletzt offenbarte mein Vater uns, dass er bereits einen Ausbildungsplatz für mich arrangiert hatte, in den Hessischen Acetylen Werken – kurz HAW – bei Offenbach. Bereits im Mai des folgenden Jahres sollte das Abenteuer beginnen.

Frage 6

Würden Sie den Einfluss ihrer Eltern auf ihre Berufswahl als bevormundend oder unterstützend werten?

Ich muss gestehen, dass sich mir die Intention dieser Frage nicht recht erschließt. Selbstverständlich war es einzig und allein die Entscheidung meiner Eltern, oder präziser meines Vaters, einen geeigneten Weg für mich zu wählen. Ergänzend muss betont werden, dass ich nach meinem bereits geschilderten Versuch im Kurierwesen zu avancieren, nie wieder eine konkrete Vorstellung der eigenen beruflichen Zukunft auszubilden vermochte.

Daher bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie in dieser Sache die richtigen Entscheidungen für mich gefällt haben. Nach wie vor bin ich der Auffassung, dass es mich deutlich schlechter hätte treffen können.

Daher bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie in dieser Sache die richtigen Entscheidungen für mich gefällt haben. Nach wie vor bin ich der Auffassung, dass es mich deutlich schlechter hätte treffen können.

Ich wurde im Leben wiederholt mit der Frage konfrontiert, welchen Teil meines Schicksals ich nun höchstselbst zu verantworten habe – und was als Beitrag Anderer zu betrachten sei. Dass die Wahl meines Berufsstandes einen entscheidenden Einfluss auf die weiteren, wohl noch zu schildernden Ereignisse meines Lebens genommen hat, scheint offenkundig. Ich kann und will jedoch keine Stellung zur Frage beziehen, in welcher Form meine Eltern also für meinen weiteren Lebensweg zur Verantwortung zu ziehen wären.

Frage 7

Gibt es Verhaltensregeln oder Ratschläge, die Ihnen seitens ihrer Mutter mitgegeben wurden?

Da gab es in der Tat einen Moment, in dem meine Mutter mir einen Ratschlag erteilte. Was sie mir mit auf den Weg geben wollte, habe ich mir in besonderer Weise eingeprägt, auf dass es im weiteren Verlauf meines Lebens immer wieder Maßgabe meines eigenen Handelns sein könnte.

Es geschah am Morgen der letzten Nacht, die ich zuhause verbringen sollte. Meine Koffer waren bereits gepackt und es war alles vorbereitet worden, um mich ins Werk nach Offenbach zu fahren. Dort war mir eine kleine Zimmergemeinschaft bereitgestellt worden, da sich der Weg von Ehrenfeld als zu lang für eine tägliche Anreise erwiesen hatte. Anstatt jeden Morgen den Chauffeur mit einer mehrstündigen Fahrt nach Offenbach zu belasten, hatte ich mich höchstselbst bereit erklärt, ein Arrangement mit den anderen Lehrlingen des Werkes zu wagen.

In dieser Nacht habe ich verständlicherweise kein Auge zutun können. Die vertraute Umgebung, die Muster, die der Mond durch die unregelmäßig gegossenen Fenster an die Zimmerwand warf und die mich seit Jahren in vertrauter Art als letzter Eindruck in den Schlaf geleiteten, schienen mich in diesen letzten gemeinsamen Stunden nicht ziehen lassen zu wollen. Darüber hinaus war ich erfüllt mit Gedanken an meine zukünftigen Kollegen, an das neue Zimmer und das Werksgelände, das ich am nächsten Tag zum ersten Mal betreten sollte, was ich seit Tagen freudig erwartete. All dies konnte ich nicht verhindern mir im Geiste auszumalen, während ich in meinem Kinderbett auf dem Rücken lag, die Hände angespannt ineinander verschränkt.

Solcherart unfähig die Augen zu schließen war mir nicht entgangen, dass sich jemand in der Frühe anschickte, etwas in der Stube zu arrangieren. Einige Zeit lauschte ich dem Rascheln, Schlurfen und Kratzen, dann beschloss ich hinunter zu gehen, um zu schauen, welche Überraschung da anlässlich meines Abschieds vorbereitet wurde. Ich nahm mir vor, Verwunderung zu gaukeln und legte mir einen passenden Ausruf zurecht, den ich beim Eintritt in die Stube auszustoßen plante. Als ich jedoch die Treppe hinunterschritt, erblickte ich auf dem Tisch bereits mein Frühstück sowie daneben drapiert eine wunderschöne Rindsledertasche. Entgegen aller Vorbereitung packte mich die Rührung. Die Tasche hatte schöne, große Fächer für Unterlagen sowie eine Halterung für Schreibgeräte – ganz passend für einen richtigen Studenten! Meine Mutter hatte nicht nur die Tasche erstanden. Sie hatte darüber hinaus die bekannte Chemieeinführung von Wilhelm Ostwald in zwei Bänden hineingelegt, die Ihnen vielleicht ein Begriff ist.

Mein Vater war zu dieser Zeit bereits in sein Büro entschwunden, weshalb wir zu zweit am Tisch saßen, wo ich langsam mein Frühstück verspeiste. Ich erinnere noch, wie ich bar jeden Hungers den Blick nicht von meiner neuen Tasche abzuwenden vermochte, während ich um meiner Mutter Willen an einer Scheibe Brot mit Sirup knabberte. Meine Ohren glühten so sehr, dass man ein Zündholz an ihnen hätte entflammen können.

In diesem Augenblick, in dem wir gemeinsam zu Tisch saßen und ich mir die Backen mit gesüßtem Brot füllte, sagte meine Mutter unvermittelt: „Das Verlockendste einer sich bietenden Gelegenheit ist allzu oft allein der Umstand, dass einem das Leben gar nicht so viele Momente schenkt, in denen man wählen kann. Lass dich davon nicht verführen, im Rausche der Entscheidung zu viel oder zu wenig für dich zu beanspruchen. Beides führt ins Elend.“ Wie sie da saß und mich beim Essen betrachtete, diesen Moment kann und will ich nie vergessen. Ich wähnte mich im Gefühl genau zu wissen, was sie mir sagen wollte. Heute jedoch denke ich, damals nicht im Geringsten den Wert ihrer Worte erfasst zu haben.

Wir verfügten zu dieser Zeit bereits über eine eigenen Fotoapparat, mit dem ich im Anschluss noch ein letztes Mal in meiner neuen Tasche und den unzähligen Erwartungen, die mich erfüllten, zum Zwecke späterer Erinnerung festgehalten wurde. Auch diese Aufnahme hängt an jener Wand neben der Treppe im Haus meiner Eltern. Nach dieser Pose jedoch stieg ich ins Automobil, um besagtem Haus für immer den Rücken zu kehren. Erhobenen Hauptes saß ich auf der Rückbank, während der Wagen auf die Straße bog und im Morgenlicht über das Pflaster ruckelte. Ich war so stolz und mir war die Brust so voller froher Erwartungen, dass es beinahe schien, als ob jeden Moment der ganzen Wagen nur mit der Kraft meines leichten Herzens von der Straße in die Luft gehoben würde, um hinüber nach Offenbach zu fliegen.

Frage 8

Mit beginn ihrer Ausbildung änderte sich ihr soziales Umfeld. Wie kamen sie im Alltag als Lehrling zurecht?

Vorweg sehe ich es als meine Pflicht zu betonen, dass der strikte und fordernde Tagesablauf allen Lehrlingen in besonderer Weise zusetzte. Obwohl ein Jeder seine höchsteigene Herausforderung im Alltag der HAW zu finden und zu bewältigen hatte, wurden sich die neuen Kollegen doch schnell einig, welcher Unterrichtsteil am meisten Unmut zu produzieren im Stande war: Jeden Montag morgen ab sieben Uhr hatte die gesamte Truppe zum theoretischen Chemieunterricht des Dr. Walter Strohbrück in Seminarraum 2.4 zu erscheinen. Es gab zahllose Dinge, in denen ich ganz verschiedener Ansicht und Ausprägung war als diese mich umgebenden rohen Gesellen. Am deutlichsten trat meine in gleichem Maße tragische wie privilegierte Andersartigkeit jedoch in diesen Stunden zutage, in denen ich den allgemein verteufelten Unterricht als Gelegenheit begriff, mir die verborgenen Geheimnisse der industriellen Chemie – und damit der diesseitigen Welt – offenzulegen.

Wie alle Räume des ersten Stocks war auch der Seminarraum 2.4 von einem steten Ammoniakgeruch erfüllt. Er kroch scheinbar aus jeder Wand des Stockwerks, das vor langer Zeit mit einer dicken, wasserabweisenden Lackschicht in hellblau, minzgrün und – im Falle unseres Raumes – in blassrosa angestrichen worden war. Er war eingerichtet mit stufenweise im Halbkreis angeordneten Holzbänken, die sich zum Kopf des Raumes hin einer großen Tafel zuordneten, einem Klassenraum nicht unähnlich. Meine Bank hatte ein unbekannter Vorgänger mit einem Galgenmännchen markiert, das in die Tischplatte eingeritzt mir keck seine Zunge präsentierte. Diese Darstellung wurde mir Symbol und Mahnung, dass mitnichten die theoretische Chemie, sondern vielmehr der mich umgebende Jahrgang als verzichtbare Geißel im Ausbildungsalltag zu sehen war. In den Kerben des Strichmännchens hatte sich eine schwarze Kruste gesammelt, sodass die Linien der Figur deutlich wahrzunehmen waren. An manchem grauen Montagmorgen, an dem mir die Welt allzu feindlich und fremd erschien, zauberte mir dieses Figürchen ein Lächeln aufs Gesicht.

Mit Glück und einigem Einsatz war es den Lehrlingen im Übrigen möglich sich dem Unterricht das ein ums andere Mal zu entziehen: Jeden Freitagabend wurde am schwarzen Brett in der Eingangshalle unserer Unterbringung eine Liste ausgehängt um die sich alsbald eine kleine Traube junger Männer scharrte. Es handelte sich hierbei um die freiwillige Besetzung eines Reinigungstrupps, der die wöchentliche Säuberung des großen Elektrolysebeckens zu übernehmen hatte, welche aus unbekannten Gründen am Montagmorgen parallel zur Unterrichtseinheit von Dr. Walter Strohbrück angesetzt wurde. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Aussicht, dem Unterricht entgehen zu können, bewusst als Anreiz für diese außerordentlich gefährliche Tätigkeit einkalkuliert wurde. Denn im Zuge der Reinigung wurde der Freiwillige in ein Geschirr gefasst und in das geleerte Bassin hinabgelassen, um dort mit einer großen Drahtbürste die korrodierten Kupferplatten blank zu schrubben. Hinzu muss erwähnt werden, dass sich einige Jahre zuvor ein tödlicher Unfall bei dieser Prozedur ereignet hatte.

Ein Vorarbeiter war versehentlich an den Stromschalter gestoßen. Der bemitleidenswerte Lehrling baumelte am Seil und zuckte und krampfte bei jeder Berührung mit der Kupferplatte unter zahlreichen Funken und Blitzen.. Trotz allem füllte sich die Liste jede Woche aufs Neue innerhalb weniger Augenblicke.

Ich erinnere zahlreiche Montage, an denen ein Häuflein schlaftrunkener, junger Männer vor der minzgrünen Tür des Seminarraums auf Dr. Strohbrück und den Beginn des Unterrichts wartete. Als einziger unter ihnen erwartete ich jede Woche voller Vorfreude die neuen Einsichten, die uns bevorstanden, um einen weiteren Teil der Natur, des Menschen und seines Universums verstehen zu können. Ganz nervös knispelte ich an den Knöpfen meines Pullunders, die nach einiger Zeit ganz klein und abgegriffen wurden.

Frage 9

Dr. Walter Strohbrück wurde zu diesem Zeitpunkt ihr Lehrer. Welchen Eindruck machte er auf sie und ihre Kollegen?

Wer mit Dr. Strohbrück konfrontiert wurde, dem konnte zuerst seine ihm ganz eigene Aussprache nicht entgehen. Er verfügte über eine ungewöhnlich hohe Stimmlage, die er in nasaler, schleppender Weise über jeden Satzbau immer gleich zu ziehen pflegte. Am Ende eines jeden Satzes – so er irgendwann erreicht war – ließ er seine Stimme wie einen nassen Sack in sich zusammenfallen und unterstrich auf diese Art das Gewicht seiner stets treffenden und präzisen Beobachtungen. Zu jener Zeit sah ich in ihm einen ganz herausragenden, feinen und anständigen Vertreter seiner Zunft als Wissenschaftler.

Ich muss erwähnen, dass zu Walters Person überaus kontroverse Meinungen kursierten. Während ich mich zu einer zugestandenermaßen jugendlich-euphorischen, beinahe grenzenlosen Verehrung dieses ausgesprochen facettenreichen Menschen hinreißen ließ, kann man die Haltung der restlichen Lehrlinge anhand einer Geschichte darstellen, die seit Jahren an der HAW kursierte und selbst einigen der älteren Mitarbeiter noch aus ihrer eigenen Lehrzeit geläufig war:

Bevor Walter seine damalige Stelle an der HAW ausfüllte, promovierte er mit Erfolg an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn im Fachbereich Organische Chemie und erklärte sogleich seine Absicht mit einer Habilitation fortzufahren, in der er chemische Prozesse anhand der darwinistischen Theorie zu erklären plante. Diese Arbeit finanzierte er mithilfe seines vorzüglichen Händchens im Skatspiel, das vielen unerfahrenen Bonner Verbindungsstudenten zum Verhängnis wurde. Weiterhin pflegte er einen äußerst sparsamen Lebensstil. Der junge Strohbrück ernährte sich jahrelang von Weizenschrot, Kochsalz und Wasser, das an verschiedenen Stellen durch den Dielenboden der Bäckerei rieselte, unter welcher er in einer schäbigen Kellerwohnung hauste. Schlichte Gemüter sahen bereits hierin den Grund für sein entrücktes Wesen, das an vielen Tagen nicht ganz im Hier und Jetzt zu existieren schien, sondern in einer magisch-chemischen Zwischenwelt.

Die Habilitation jedoch scheiterte aus unbekannten Gründen. Ihr folgten verschiedene, teils haarsträubende Anstellungen, unter anderem als Verkäufer von Potenzmitteln, als Vorarbeiter in einer Seifenproduktion und als Kohlelieferant. Bei der HAW hatte er schließlich als einfacher Labortechniker angeheuert. Ursprünglich war er beauftragt einen verunglückten Kollegen zu vertreten und in dieser Funktion verantwortlich für die Beaufsichtigung einer speziellen Hefepilzkultur. Der Legende nach entwickelte Strohbrück eine geistige Symbiose mit dem Hefepilz, woraufhin dieser begann, auf Befehl normale Luft in reines Acetylen umzuwandeln. Aus unbekannten Gründen missgönnte Strohbrück jedoch seinen Vorgesetzten diese Erfindung. Er verspeiste den Hefepilz am letzten Tag des Experiments und gelangte so zur eingangs beschriebenen Stimmlage. Die Werksleitung tobte, als sie erfuhr, was Strohbrück ihnen vorenthalten hatte und strafte ihn mit einer Lehrstelle in theoretischer Chemie, die er von nun an bis zum Ende seiner Tage auszufüllen hatte.

Frage 11

AM 17. Oktober 1914 Unterbreitete IHNEN DR. WALTER STROHBRÜCK EIN UNGEWÖHNLICHES ANGEBOT. WARUM TAT ER DIES IHRER MEINUNG NACH?

Dieser Moment verdient es wohl mit Recht als Wendepunkt meines Lebens bezeichnet zu werden. Walter übernahm in vollem Bewusstsein der Tragweite seiner Entscheidung für kurze Zeit das Ruder meines Schicksals und steuerte mein bis zu diesem Moment unauffälliges und gemäßigtes Leben in den Strudel weltgeschichtlicher Verwicklungen. Er war der – in meinen Augen bis heute zutreffenden – Meinung, meine zarte Natur hätte an der Front keine Heldentaten zu erwarten. Wohl wäre ich bereits in den ersten Tagen dem menschenverachtenden Kriege zum Opfer gefallen, wenn er nicht eine andere, meiner Natur ungleich passendere Betätigung gefunden hätte, um meinen Dienst für Kaiser und Vaterland zu garantieren. Er tat dies ohne Zweifel aus Achtung vor meinen Leistungen in der Ausbildung und war wohl auch daran interessiert, an diesen meinen außergewöhnlichen Fähigkeiten selbst ein wenig zu profitieren.

Zudem war seine Entscheidung ein Glück, da mein Tatendrang, der wie bei allen jungen Männern dieser Tage keine Grenzen kannte, durch seine Maßnahme in kluge Bahnen gelenkt wurde. Konnte ich in den Tagen nach Kriegsbeginn doch kaum an mich halten und wurde nur durch Schikanen der anderen Lehrlinge an der freiwilligen Meldung zum Dienst an der Waffe gehindert.

Frage 12

Darauf folgte ein erneuter Wechsel ihres persönlichen Umfeldes. Welche Wirkung hatten das Militär und die neuen Kollegen in Köln-Wahn auf sie?

Entgegen meinen Erwartungen folgte der Dienst in Wahn nicht unmittelbar auf unser geschildertes Gespräch im Oktober 1914. Beinahe zwei Jahre sollte ich auf immer neuen Aushilfspositionen der HAW fristen, bis mich endlich der befreiende Ruf nach Wahn ereilte, wo Walter bereits seit Monaten in Aufbau, Umbau und Einrichtung eines Labors begriffen war.

An jenem Sommerabend im August fand ich mich nun erwartungsfroh und voller Tatendrang auf dem Forschungsgelände ein – nur kurz bevor das Eintreffen der weiteren Mitstreiter unsere Einheit komplettieren sollte. Es waren eindrucksvolle Stunden, in denen mir allein über das Gelände zu streifen vergönnt war und ich halte sie noch immer in bester Erinnerung. Die vom Tage sich zärtlich trennende Abendsonne hatte Gelände und Gebäude in den tiefsten aller orangen Schleier gehüllt. Mir war ganz so, als ob ich durch ein Diorama wandelte oder eine Miniaturlandschaft, wie sie Kinder zu begeistert vermag, da sie in ihr eine eigene, geborgene und ihnen ganz gerechte Welt erblicken. So zog es mich um die windschiefen Häuser, entlang der Begrenzungsmauer und zurück zu den neu errichteten Flugzeugschuppen, an denen entlang sich ein breiter Streifen frischen Asphalts dem ihm gegenüberliegenden Tannenwäldchen entgegenstreckte.

Der geschilderte Umbau war zuvorderst unserem Wahner Oberbürgermeister und glühenden Amateurpiloten August-Wilhelm Thiel zu verdanken. Unermüdlich hatte er am kaiserlichen Hof seine Bitte vorgetragen, den von ihm ersonnenen Flugplatz mit einer finanziellen Aufmerksamkeit aus der Reichsschatulle zu unterstützen. Stets pflegte er darauf hinzuweisen, dass die Fliegerei sich innerhalb der französischen Armee bereits einen festen Platz erstritten hatte und sich dies im Falle einer Konfrontation für deutsche Truppen als kriegsentscheidender Nachteil herauszustellen drohte. Ein ganzes Jahr wurde bereits gekämpft, als endlich ein Budget für die Gründung des offiziellen Luftwaffenstützpunktes Köln-Wahn des deutschen kaiserlichen Heeres bewilligt wurde, was unseren treuen Soldaten die Möglichkeit eröffnete, unseren Rückstand im Flugzeugbau aufzuholen. Noch am selben Tag war Walter aufgebrochen, um Bauarbeiten und Ausstattung der neuen Räumlichkeiten zu überwachen. Über die höheren Ziele unserer Mission hatte er sich bis zuletzt verschlossen gezeigt und so blieb ich selbst nach seiner Abreise darüber im Unklaren, was genau wir in unserer neuen Wirkungsstätte zu erwarten haben würden. Stutzig, aber auch stolz, ließen mich zwei Soldaten werden, die das kleine, gemauerte Tor zum Gehöft bewachten, nach Prüfung meiner Papiere zackig salutierten und den Weg aufs Gelände freigaben.

All dies wand ich im Kopf hin und her, bis mich die Sonne jenes Tages endgültig verlassen hatte und kein Gramm leichter an Gedanken und Erwartungen suchte ich schließlich meinen Weg zurück ins Haupthaus, wo ich Walter im ehemaligen Wirtschaftsraum antraf, den Kopf im Inneren eines neuinstallierten Gastanks versenkt. Auch nach meiner Ankunft hatte er keine Sekunde damit vertan, meine brennende Neugier zu befriedigen. Da es mir nicht gelang sein geschäftiges Schweigen zu durchbrechen, entschloss ich mich dazu, weiter aus dem Fenster in die nun einsetzende Dunkelheit zu starren, bis ich einer Kolonne kleiner weißer Lichter gewahr wurde, die in Zweierreihen den Zuweg zu unserem Gebäude hinaufsteuerten. Im Lichte eines halben Dutzend neuer Straßenlaternen stiegen drei Männer aus den Wagen, in denen ich treffender Weise meine neuen Kollegen zu erkennen glaubte.

Leutnant Hans-Georg Wilhelm Paul von Höxter-Lüchtringen betrat als Erster die Empfangshalle. Ein kleiner, feingliedriger Mann, der seiner fliehenden und zusehends kahlen Stirn eine Ballonmütze verordnet hatte, als Schutz vor der Witterung und verletzenden Blicken. Ohne jeden Zweifel hätte er als ausgezeichneter Pilot gelten können – Einsätze an zahlreichen Frontabschnitten unterstrichen dies. Zuletzt hatte er in Ypern Dienst getan, wo er als Aufklärungsflieger über den feindlichen Linien kreiste, unter heroischer Verachtung des eigenen Lebens und der zahllosen Gefahren, die ein solcher Einsatz mit sich brachte. Bedauernswerterweise verfolgte von Höxter-Lüchtringen – wie die meisten Männer seiner Familie – ein für Piloten in besonderem Maße hinderlicher, ja geradezu bedrohlicher Hang zum Sherry. Der Leutnant geriet zunehmend in Erklärungsnöte und wurde schlussendlich in Folge eines nicht näher erläuterten Unfalls zum Testpiloten an der Heimatfront degradiert.

Deutlich über den Kopf von Höxter-Lüchtringens hinweg ragend, stierte Karl Tappen in den Raum. In seinen dicken, schartigen Brillengläsern spiegelten sich die Flammen zahlreicher kleiner Gaslampen, die Walter in den vorherigen Wochen bereits im Haus hatte installieren lassen. Tappen verdankte seine Versetzung nach Wahn einem verwandtschaftlichen Band zur einer Person der oberen Heeresleitung. Bereits am Tage nach Kriegsbeginn hatte er sich zum Dienst an der Waffe verpflichten lassen. Geradezu nervös, durch seine nachlässige Trödelei nicht zum Zuge zu kommen, drängte er durch die Ausbildung, bis die neu ausgehändigte Pickelhaube seinem überhitzten Haupt ein wenig Kühlung verschaffte. Demoralisiert und verzweifelt offenbarte sich Karl jedoch nur wenige Monate später besagtem Verwandten in einem privaten Schreiben, in welchem ihn ein Destillat schrecklichster Fronterlebnisse zu der Bitte veranlasste, das Heer vorzeitig und ohne weiteres Engagement verlassen zu dürfen.  In der Tat erwirkte Karl eine Zwangsversetzung zurück in die Heimat, wo ihm nun gestattet wurde, seine Erfahrungen als ehemaliger Leiter einer untergeordneten Forschungsabteilung innerhalb eines großen Darmstädter Pharmaunternehmens unserer Unternehmung beizusteuern.

Als Letzter und mit gehöriger Verzögerung erschien Leutnant Ernst von Rheide im Türbogen – den Effekt seines unerwarteten Auftritts in vollen Zügen genießend. Sein pomadisiertes Haar glänzte im Licht der Gaslaternen ebenso golden wie die zahllosen frisch polierten Knöpfe seiner Uniform, was von Rheide das Aussehen eines Filmstars verlieh. Ganz so als käme er frisch von der Kulisse einer Filmproduktion mit dem Titel ◊Husaren des Himmels“. Wie an späterer Stelle noch auszuführen wäre, hatte er das Studium eines Luftfahrtingenieurs durchlaufen, welches im vergangenen Jahr an der Universität von Kiel ein erfolgreiches Ende gefunden hatte. Ernst entstammte einem südschleswigschen Adelsgeschlecht, dem aus den historischen Verteilungskämpfen im norddeutsch-dänischen Grenzgebiet jedoch lediglich Brotkrumen ihres einstigen Grund und Bodens geblieben war. Eine tragische Familiengeschichte, deren vorläufigen Endpunkt Ernst als zwölftes und letztes Kind und Bruder unter elf Schwestern darstellte. Mit einer lässigen Handbewegung knöpfte er seinen Kragen auf und begrüßte die neuen Kollegen per Handschlag.

Frage 13

Was passierte dann? Bitte gehen Sie noch genauer auf die ihnen zugedachte Rolle und ihre Tätigkeiten ein.

Nachdem allen Mitstreitern die Gelegenheiten gegeben war, sich mit den Räumlichkeiten vor Ort vertraut zu machen, versammelten wir uns erneut im großen Labor, um der Enthüllung unseres hochgeheimen Auftrags durch unseren gemeinsamen Vorgesetzten, meinen Lehrmeister Dr. Strohbrück, beizuwohnen. Im Halbkreis um den großen Arbeitstisch sitzend erfuhren wir Folgendes: Man hatte uns zur Entwicklung einer neuen Flugzeugpanzerung berufen. Das Ergebnis sollte eine metallene, gegen Beschuss und Granatsplitter schützende Bodenplatte sein, welche dem Piloten eine sichere Rückkehr – auch über feindliches Gebiet hinweg – garantieren sollte und damit letztendlich den Radius seiner Aufklärungsaktivitäten deutlich erhöhen würde. Hierzu gehört erwähnt, dass Flugzeuge zu dieser Zeit von ausgesprochen leichter Bauart waren und wenig dafür geeignet, Beschuss zu erdulden. Meist waren ihre Außenhüllen aus Gründen der Gewichtsreduzierung und der damit verbundenen günstigeren Flugeigenschaften mit Stoff oder Papier bespannt und boten somit nicht einmal Schutz gegen primitive Steinschleudern – auch wenn sie sich diesen höchstselten ausgesetzt sahen.

Kurz fühlte ich ein Vakuum der Enttäuschung sich meine Speiseröhre empordrängen. Statt einer plumpen Bodenpanzerung hätte ich meine Talente lieber der Konstruktion einer neuartigen Bombe oder eines sich darin befindlichen Kampfstoffes gewidmet. Nicht erahnen zu können, welche großartigen Entdeckungen wir dieser Aufgabenstellung zu verdanken haben würden, war meiner mangelnden Vorstellungskraft geschuldet, wie ich unumwunden zugeben kann.

Jeder Beteiligte – Karl Tappen ausgenommen – war aufgrund seiner Expertise sowie seines zu erwartenden hochqualifizierten Beitrags zur Lösung der vor uns liegenden Herausforderungen abkommandiert worden. Im Besonderen Walters und meine Aufgabe zielte darauf ab, die Verschweißung der Bodenkonstruktion zu konzipieren und zu optimieren. Als Vorbild sollten uns hierbei jene Fortschritte gelten, die man zuletzt in der Konstruktion neuartiger, verschweißter Schiffsrümpfe gemacht hatte. Entgegen meinen eigenen Erwartungen wurde ich mit der Zeit ein ganz passabler Schweißer, da Karl ein nervöses Zittern in der rechten Hand vorschob, Ernst die Bauzeichnungen zu übernehmen pflegte und Walter sich als Koordinator nicht in der Position sah, solcherart Knochenarbeit zu übernehmen.

Mir wurde gewahr, wie selten der Mensch auf die Ausführung von Schweißnähten zu achten pflegt, was mich nicht nur in Erstaunen versetzte, weil sie Fahrzeuge, Brücken und Häuser in stiller aber todsicherer Weise zusammenzuhalten vermögen. Auch lernte ich ihre besondere Schönheit zu ehren, welche in ihrer höchsten Form den erstarrten Lauf eines, alle Farben spiegelnden Tropfens nachzeichnen, der sich in natürlicher Unregelmäßigkeit zu einer kleinen, matten Narbe über die zwei verbundenen Elemente wölbt.

Mit großem Ernst machten wir uns umgehend ans Werk und so waren die folgenden Tage bereits geprägt von emsigem Planen und Entwerfen. Ich kann ohne großes Eigenlob für uns in Anspruch nehmen, bereits in den ersten Wochen recht erfolgreich gewesen zu sein. Schnell nahm eine ausgeklügelte Konstruktion von Querverstrebungen und wellenförmigen Schweißnähten Form an. Wir montierten sie umgehend unter einer der neuen Fokker-Maschinen, die uns als Aufmaß ebenso wie als Versuchsobjekt dienen sollten. Hierbei stießen wir auf einen physikalischen Widerspruch, der unsere zukünftige Forschungsarbeit maßgeblich prägen sollte:

Fertigten wir die Bodenbleche in einer Stärke, die gemäß den Anforderungen der Heeresleitung zuverlässigen Schutz vor Beschuss bot, war es der Fokker aufgrund des zusätzlichen Gewichts nur unter günstigsten Wetterverhältnissen möglich, sich von der Startbahn zu lösen und einen stabilen Flug zu absolvieren. Reduzierten wir Gewicht und damit die Blechstärke wurde der Flugzeugboden allzu leicht durchschlagen und der schützende Effekt war dahin.

Es wollte uns kein befriedigender Kompromiss zwischen diesen beiden Eigenschaften gelingen, bis wir in zunehmender Verzweiflung einen Vorschlag ernsthaft zu verfolgen begannen, den ich, wie ich zuzugeben bereit bin, eines Abends mit vor Erschöpfung vernebeltem Geist den anderen gegenüber geäußert hatte. Damals phantasierte ich von einer zu konstruierenden Verschalung, die nicht nur am Unterboden des Flugzeugs zu installieren wäre, sondern rundum eine komplett abschließende Hülle darstellte. Diese starre Außenhaut wäre man anschließend in der Lage mit Wasserstoff zu fluten, um den benötigten Auftrieb gleich einem Luftschiff mithilfe des Füllgases zu erreichen. Heraus bekäme man eine vielversprechende, völlig neue Flugzeuggattung, die zugleich deutlich kleiner als ein Doppeldecker zu sein verspräche, und dabei alle Flugeigenschaften seiner herkömmlichen Konkurrenten zu übertreffen die Chance hätte. Wir fertigten die ersten Konstruktionszeichnungen unter dem Arbeitsnamen “Sperling“ an. Ernst entwarf umgehend ein passendes Emblem, das unser neues Flugzeug am Heckruder markieren sollte. Es zeigte einen Vogel, der seinen Flügel zur Abschirmung dessen emporreckte, was sein zierlicher Schnabel in die Welt hinaus zu verkünden hatte: Sieg!

Frage 14

Galt das Projekt Grundsätzlich als erfolgreich? BEGRÜNDEN SIE IHRE EINSCHÄTZUNG und NENNEN SIE ihre Konkreten BEITRÄGE.

Der Prototyp des Sperling steuerte lange Zeit auf den von uns erwarteten Triumph zu. Sein Siegeszug endete jedoch am 23. September 1916 in einem tragischen Unfall, der nicht zuletzt auf Schwächen des von uns verwandten Materials zurückzuführen war. Ich bin nicht geneigt die Vorgänge, die uns jenen düsteren Tages trafen, als gescheitert zu verstehen, muss jedoch eingestehen, dass ich aufmerksamer meine Rolle als Korrektiv in der komplexen Konstruktionsarbeit hätte auszuführen können. Es sollte ebenfalls nicht unerwähnt bleiben, dass der erfolgreiche Jungfernflug des Sperling noch wenige Tage zuvor in den Herzen aller Beteiligten wahre Stürme der Begeisterung auszulösen im Stande gewesen war.

Ganz anders jener ebenso unglückliche wie ungemütliche Septembermorgen. Um Wind und Wetter zu entgehen, hatte von Höxter-Lüchtringen seine Lederkappe tief über Stirn und Ohren gezogen. Wir hingegen drückten uns in den Windschatten einer Garage und beobachteten die Landebahn, auf der unser Kamerad seine umgebaute Fokker für den Start präparierte. Der Wasserstoffkompressor ratterte auf einem kleinen Beiwagen. Karl Tappen war per Los dazu bestimmt worden Starthilfe zu geben. Mehrmals riss er mit ganzer Kraft am Propeller, bis dieser sich endlich in einen kreisrunden, transparenten Schatten am Bug des Sperlings verwandelte. An die Holzwand gedrückt verfolgten wir mit Ferngläsern den Start und anschließenden Steigflug der Maschine.

Frage 15

WELCHE PERSÖNLICHEN KONSEQUENZEN HABEN SIE AUS DIESEM UNFALL GEZOGEN? SCHILDERN SIE AUCH DAS VERHALTEN Dr. Strohbrücks.

Der dramatische Tod von Höxter-Lüchtringens schockierte uns ohne Ausnahme. Es verstand sich von selbst und es war uns eine Frage der Ehre, dass wir eine Trauerzeit von fünf Tagen einhielten, in denen der Betrieb ruhte und ein jeder von uns ganz allein sich in Gedanken windend die Gelegenheit bekam zu ergründen, was er persönlich an diesem Vorfall anzuprangern und woran er Schuld zu tragen hatte.

Am sechsten Tag dann saßen wir beisammen und stellten uns Fragen. Selbstkritisch und mit offenem Visier wurde ein jeder eindringlich auf seine Verfehlungen hin geprüft und anschließend innerhalb der Gruppe von individueller Schuld freigesprochen. Wir sammelten Theorien und Erklärungsmodelle, die den Tod unseres Kameraden möglichen Fehlerquellen zuzuordnen erlaubten, um diese zukünftig aus der Welt schaffen zu können. Was wir sicher wussten – da es sich vor unser aller Augen zugetragen hatte: Der Sperling absolvierte Start und Steigung planmäßig, war daraufhin jedoch ins Trudeln geraten und nach wenigen Minuten in einer Flammenwolke zerstoben. Die Hitze der, einem Kometen gleich zu Boden stürzenden Flugzeugteile hatte selbst in unserer geschützten und einigermaßen weit entfernten Position noch meine Wangen gestreift.

Am Morgen des siebenten Tages diktierte Walter unseren offiziellen Unfallbericht an die Heeresleitung, welcher einen für alle Beteiligten zufriedenstellenden Kompromiss beinhalteten sollte. Ich kann und darf in meiner Lage nicht verschweigen, dass wohl ein mir höchstselbst zuzuschreibender, gravierender Konstruktionsfehler zumindest mittelbaren Einfluss auf das Unglück genommen haben musste: Ein Riss in einer Schweißnaht der metallenen Abtrennung von Gasreservoir und Verbrennungsmotor stand im Hauptverdacht eine Leckage und damit die Entzündung des Wasserstoff bewirkt zu haben, woraus der von uns beobachtete infernale Feuerball resultierte. Da die Ursache jedoch gefunden schien und wir uns somit bereits in der Fehlerbehebung begriffen sahen, einigten wir uns gemeinsam darauf, das Hauptaugenmerk des Berichts auf einen – zwar höchst spekulativen, gemäß unseren Ausführungen jedoch umso verhängnisvolleren – Bedienungsfehler von Höxter-Lüchtingens zu lenken. Dieser Erklärung folgend, hatte er die Flugzeugchassis mit einem riskanten Flugmanöver derart beansprucht, dass unsere Rumpfkonstruktion ganz ohne das dramatische Zusammenspiel von Wasserstoff und Zündkerze ihre Grenzen erreichte und zerbarst.

Frage 16

ENTGEGEN IHREN ERWARTUNGEN WURDE DAS PROJEKT SPERLING NICHT EINGESTELLT. Wie oder unter welchen Bedingungen konnten sie das weitere Forschungs- unterfangen moralisch verantworten?

In der Tat waren wir mehr als überrascht, als die Heeresleitung nach den von uns geschilderten Ereignissen weiteren Forschungen im Sinne des Sperling Projekts zustimmte. Bereits wenige Tage nach erfolgter Berichterstattung erreichte uns ein Telegramm, welches die unmissverständliche Aufforderung enthielt, die Entwicklung eines weiteren Prototypen unter allen Umständen voranzutreiben. Selbstverständlich waren wir – wie wohl jeder gute Soldat – bemüht, den Forderungen unserer Befehlshaber zu entsprechen. Der solcherart veranlasste Strategiewechsel hatte jedoch eine Vielzahl unterschiedlicher Beweggründe, von denen zwei ausdrückliche Erwähnung verdienen:

Zuvorderst mangelte es uns an einsatzfähigen Testpiloten, die eine neue Maschine zu bedienen im Stande gewesen wären. Aufgrund der außergewöhnlichen Flugeigenschaften des Sperling war einiges an Erfahrung und Furchtlosigkeit gefragt, um ihn zu kontrollieren und Männer dieser Prägung waren in Kriegstagen rar gesät. Darüber hinaus wogen unsere Bedenken bezüglich einer erneuten Leckage der Gastanks schwer, hätte sie doch auch weiterhin jederzeit zu einem Totalverlust von Mann und Gerät führen können. Zwar erörterten wir die Möglichkeit, den hochbrennbaren Wasserstoff durch Helium zu ersetzen, um so die Sicherheit des Piloten während eines Fluges beachtlich zu steigern. Die hohen Kosten sowie die schlechte Verfügbarkeit des benötigten Heliums rückten diesen Vorstoß jedoch bald in weite Ferne – hatte doch ganz Europa nicht eine einzige Förderstätte für dieses leichte Gas aufzuweisen.

Den rettenden Vorschlag unterbreitete Ernst von Rheide. Seiner Argumentation folgend, konnte auch ein Modell im verkleinerten Maßstab bis auf weiteres alle Anforderungen unserer Forschungstätigkeit erfüllen. Nicht nur, dass es uns auf diesem Weg möglich wurde, unsere Aufgabe ohne einen geeigneten Piloten fortzusetzen, auch die Beschaffung von Helium für ein solcherart reduziertes Tankvolumen schien im Bereich des Möglichen. In dieser Sache profitierten wir zum Erstaunen aller von der Expertise Karl Tappens, der es fertigstellte, seinen ehemaligen Kollegen in Darmstadt mehrere Flaschen des Edelgases im Tausch gegen einige kleine Fotografien mit erotischen Posen junger Damen abzuringen. Den Herren war es möglich, kleinere Mengen Helium mit einer Sondereinfuhrerlaubnis nach Deutschland zu schaffen, indem sie es für die Erforschung und Behandlung verschiedenster Lungenkrankheiten deklarierten.

Diese neuen Möglichkeiten führten uns direkt zur Entwicklung eines weiteren Flugzeugtyps – des Mikrosperling. Die ehrenvolle Aufgabe des vormals menschlichen Piloten erfüllte in diesem stark verkleinerten Modell eine Ratte, die mithilfe einer Gummimanschette im Cockpit fixiert wurde und in unseren Protokollen dem verstorbenen von Höxter-Lüchtringen zu Ehren mit dem Kürzel HL– sowie einer fortlaufenden Nummer markiert wurde.

Ich erwähne dies, da mir zum damaligen Zeitpunkt die Notwendigkeit zum Einsatz dieser kleinen Piloten nicht unbedingt gegeben schien. Sie wurden jedoch auf Walters ausdrücklichen Wunsch in die Konstruktion integriert. Ich kann nur von Glück sprechen, nicht bis zu jenem Tag in dieses unglückliche Schauspiel interveniert zu haben, an dem einer dieser kleinen Helden uns das Zeichen unserer großartigsten Entdeckung zu verkünden im Stande war.

Zeitweise hatte unser Verschleiß an Versuchstieren enorme Ausmaße angenommen, da sie meist – einem auffällig schwachen Herzen geschuldet – unter den harten Anforderungen kapitulierten. Der Stress, dem die armen Tiere in unserem neuen Windkanal, bei Druckveränderungen und Beschleunigungsversuchen ausgesetzt waren, erschien mir bereits damals bedauerlich und ist rückblickend nur durch ihre bereits angedeutete, historische Bedeutung im weiteren Verlauf der Forschungen zu rechtfertigen. Walters konsequentes Beharren auf ihren Einsatz verdient besondere Beachtung. Denn er selbst nahm einmal wöchentlich die Reise zu einer Händlerin auf sich, die ihren Geschäften in einem nicht näher bezeichneten Winkel des Wahner Umlands nachzugehen pflegte. Einen mit Nagern gefüllten Eimer unter dem Arm kehrte er von diesen Einkäufen stets schlecht gelaunt zurück. Ganz so, als hätte er als Preis für die Tiere eines von ihnen zwischen zwei Brötchenhälften vertilgen müssen.

Frage 17

WIE BEWERTEN SIE den NUTZEN ihrer FORSCHUNG IM KONTEXT DER KRIEGSHANDLUNGEN?

Dies zu beurteilen, fällt mir außerordentlich schwer. Es ist wohl geboten, vor dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse noch einmal das Grundverständnis zu erläutern, unter dem wir alle gemeinschaftlich unsere Pflicht auf dem Luftwaffenstützpunkt in Köln-Wahn erfüllten. Es verhielt sich so, dass der Dienst im Labor statt an der Front für uns aus jeweils ureigenen und den Kameraden verborgenen Gründen eine unbefriedigende Situation darstellte. Obgleich wir niemals darüber sprachen, einte uns der Verdacht eine vollwertige Soldatenuniform nicht wert gewesen zu sein. Uns blieb nur der Laborkittel, an dem doch niemals Orden und Auszeichnungen prangen sollten, mit denen Ehre und Tapferkeit zu beweisen ihr Träger im Stande war. Insbesondere Ernst und ich teilten das Gefühl, zurückgestuft und unter unseren Möglichkeiten gehalten worden zu sein. Als missgönne uns eine unbekannte Macht jenen Beitrag zum Ruhm des Vaterlandes, den wir sehnsüchtigst zu leisten wünschten.

Umso mehr war unsere Einheit von dem Verlangen getragen, den eigenen Wert für Kameraden und Vaterland durch Forschungserfolge im Sinne des kaiserlichen Heeres unter Beweis zu stellen. In diesem Lichte ist auch zu sehen, warum der Tod von Höxter-Lüchtringens unsere Tätigkeiten zwar für kurze Zeit zum Erliegen brachte, zu keiner Zeit jedoch unserem Tatendrang Fesseln anzulegen vermochte! Wir waren uns bewusst, dass der Sperling unser wertvollstes Geschenk an das deutsche Volk darstellte, an dessen Fertigstellung wir unermüdlich zu arbeiten bereit waren, während andere im Kampf Mann gegen Mann ihr blankes Leben darboten.

Gleichwohl war der Nutzen unserer Forschung für die tapferen Kameraden nicht gleichzusetzen mit jenen Durchbrüchen, wie sie zur selben Zeit von den Kollegen Fritz Habers vertreten wurden. Ich kann nicht verhehlen, manches Mal voller Neid nach Berlin geblickt zu haben – insgeheim hoffend, in denselben historischen Dimensionen wirken zu können. Dessen statt begnügte ich mich mit den traurigen Augen jener zahllosen Ratten, die wir für unsere fixen Ideen Reihe um Reihe in den Tod zu schicken bereit waren. Ich befürworte in keinem Fall die sinnlose Opferung unschuldigen Lebens. Wenn es jedoch nicht anders zu machen ist, dann doch bitte sehr im Sinne einer heldenhaften Sache und nicht im Kleinklein solcher Alltäglichkeiten, wie sie mich viel zu oft und viel zu lange im Laufe meines Lebens in Beschlag genommen haben!

Wahre Tragödie liegt entgegen der landläufigen Meinung nicht in der Ausweglosigkeit, sondern in eben jenen Auswegen, die der Mensch so schwer im Stande ist zu erkennen und die doch sein ganzes glanzloses Leben begleiten. Wäre es mir persönlich gelungen nur eine einzige dieser Abzweigungen zu nehmen, die Welt wäre eine andere geworden, das kann ich Ihnen versichern.

Frage 18

SIE ERWÄHNTEN MEHRMALS, ENTSCHEIDUNGEN DAS PROJEKT BETREFFEND WÄREN NICHT IN IHREM SINNE GEFALLEN. ERGABEN SICH DARAUS FÜR SIE PERSÖNLICHE KONFLIKTE?

Die große Paradoxie meiner Zeit in Köln-Wahn ergab sich aus dem Umstand, dass rückblickend jeder der moralischen Halbschatten, welche ich rundheraus ablehnte – oft sogar zu kritisieren bereit war – letztendlich eine weitere Stufe unseres Aufstiegs zum neuen, leichten Menschen ausmachte. Rückblickend wieder und wieder der eigenen Fehleinschätzung gewahr zu werden, zermürbte mich und ließ in mir den Wunsch reifen, mich gänzlich dem Willen Anderer anvertrauen zu können, um mich der Einheit und dem natürlichen Fluss ihrer Entscheidungen hinzugeben.

So war ich denn bereit sowohl den Tod von Höxter-Lüchtringens wie auch die Vernichtung zahlloser Generationen von Ratten-Piloten ohne Trauer als Teil eines höheren Sinns anzuerkennen, von dem ich hoffte, dass er sich mir zu einem späteren Zeitpunkt offenbaren würde. Und ich bemühte mich nur noch ein einziges Mal jenem Sterben einen Sinn zu verleihen, indem ich begann, die Toten der vergangenen Tage gleich kleinen Soldaten in einem Setzkasten anzuordnen, um einen Anschein von Ordnung und Struktur in unseren zahlreichen Versuchsabläufe zu erwecken.

Im Zuge dieser Sortierung schwor ich mir, weder in die HAW noch in die Fabrik meines Schraubenfürsten oder eine andere der mit Zwang belegten Facetten meines glanzlosen Lebens zurückkehren zu wollen.

Frage 19

UND DOCH BESUCHTE SIE IHR VATER AM 30. APRIL 1918 IN WAHN. WIE HAT DIES IHR BEMÜHEN UM DISTANZ BEEINFLUSST?

In der Tat war ich bereits eine ganze Weile gut gefahren mit meinem Entschluss, die Familie hinter mir zu lassen und mich ganz einem neuen, eigenen und freien Leben im Kreise meiner Kameraden zu widmen. Briefe meiner Eltern erreichten mich in unregelmäßigen Abständen, ich öffnete sie jedoch nicht mehr und entzog mir somit jegliches Vermögen, auf diese mir entgegengebrachte Mitteilungsbereitschaft reagieren zu können. Der Gedanke liegt nahe, dass eben jenes hermetische Verhalten uns die hochnotpeinliche Visite meines Vater ebenso wie Walters darauf folgende, beschämend-unterwürfige Reflexe erst einbrachte. So geriet ich wohl selbst verschuldet in diese missliche Lage, vollkommen unvorbereitet und geradezu übertölpelt dem, mich in der Auffahrt des Geländes erwartenden, Vater gegenübertreten zu müssen.

Als ich seiner gewahr wurde, entstieg er gerade seinem Automobil, eine Hand an der Karosserie, in der anderen eine beglaubigte Zutrittsgenehmigung. Ihm folgend erinnere ich einen ausgemergelten Offizier, den man meinem Herrn Vater offensichtlich als Betreuung zur Seite gestellt hatte. Den ganzen Tag wich er nicht von unserer Seite. Mich erinnerte er an eine verkniffene, dürre Eidechse mit großem Schnurrbart und einer Halsfalte, die sich durch jahrzehntelang getragene Uniformkrägen in die Haut gegraben hatte, wobei er seinen Kopf ruckartig nach links und rechts wand – ganz als wittere er Feinde, von deren Existenz wir anderen noch keine Notiz hatten nehmen können.

Frage 20

Hatten Dr. Strohbrücks Anbiederungsversuche ihrem Vater gegenüber  Auswirkungen auf das Gefüge ihrer Einheit?

Ich kann getrost behaupten, dass Walters unwürdiges Verhalten unsere Truppe gehörig durcheinander wirbelte. Wenngleich ich ebenfalls gestehen muss, dass meine eigene Reaktion, in keinem Maße souverän ausfallend, kaum ungeeigneter hätte sein können, um das feine Gleichgewicht unter uns Forschern zu stabilisieren. Walter hatte in meinen Augen den schlimmsten nur denkbaren Verrat begangen, indem er meinem Vater zu gefallen suchte – woraufhin ein weiteres Mal meine Neigungen sich Bahn zu brechen drohten, um gegenüber den Anwesenden Momente größter Verletzlichkeit zu offenbaren.

Dieser meiner Befürchtung zuvorkommend suchte ich noch am selben Abend die Einsamkeit und versteckte mich mit einigen Decken und etwas Proviant auf dem Speicher des Haupthauses. Dort war neben einigen Körben und Kisten keinerlei Einrichtung zu finden und nur ein kleines, kreisrundes Fenster am vorderen Giebel erlaubte einen Blick hinaus auf die Felder und die Landebahn. Drei Tage haderte ich mit der Welt. Ernst fand mich schließlich dort sitzend und hinaus starrend, ganz als wäre ich bemüht, mich meines Körpers zu entziehen und mich mitsamt meines Geistes in einem Akt höchster innerlicher Akrobatik entlang der Achse meines Blickes aus dem Dachboden hinaus in den Wald zu hangeln.

Wie Ernst mir berichtete, war meine Abwesenheit nicht lange verborgen geblieben. Unter größter Bestürzung hatte sich ein jeder unserer Kameraden an der Suche nach mir beteiligt. Und da über mein Verbleib Unklarheit herrschte, war erst einmal das Schlimmste anzunehmen. Bald kursierten ganz phantastische Erklärungen über mein Verschwinden, von denen mir einige – wie ich zu gestehen bereit bin – imponierten und auch schmeichelten. Offenbar befürchtete man sogar eine Entführung meiner Person durch französische Agenten, welche ausgesandt worden waren, um mir unter schrecklichster Folter unsere Forschungsergebnisse zu entlocken und anschließend noch ein hübsches Sümmchen mit meinem wohlhabenden Nachnamen zu verdienen.

Nachdem Ernst seinen Bericht geschlossen hatte, wagte ich lange Zeit nichts zu sagen. Stumm wie die Fische saßen wir am Giebel und blickten durch das kleine Bullauge hinaus auf die Welt der Anderen. Schließlich durchbrach ich das Schweigen, indem ich Ernst die Gelegenheit gab, meinen Ärger auf Walter aus erster Hand zu verstehen. Nachdenklich lauschte er meinen Ausführungen und wie ich es still gehofft hatte, waren wir beide ganz ähnlicher Art und teilten viele der Bedrängnisse und Prägungen, welche ich bis zum damaligen Tage als ganz allein mir zugehörig verstanden hatte.

Ernst war als Künstler geboren worden. Folglich zeigte er sich gänzlich ungeeignet für jene Ausbildung als Luftfahrtingenieur, in die sein Vater ihn hinein befohlen hatte. An der polytechnischen Hochschule in Kiel hatte er mehrere Jahre gelernt und gelitten – gleichermaßen in steter Auflehnung gegen die ihm Vorgesetzten wie in blanker Missachtung seiner Kommilitonen. Schnell wurden wir der unsichtbaren Bande gewahr, die unser beider Leben miteinander verbanden und innerlich wuchs meine Bewunderung gegenüber diesem jungen Mann, der trotz härtester Prüfungen im Stande war, mit Verachtung und in ruhiger Wut auf seine Peiniger hinabzublicken.

Später präsentierte Ernst mir seine Malerei, die er selbst unter den widrigen Umständen in Wahn weiter zu praktizieren imstande war. Tief beeindruckten mich seine Studien exotisch-futuristischer Arrangements im Stile Paul Gaugins ebenso wie einige gewagte Darstellungen junger Frauen und Männer, welche sich ihrer Natürlichkeit inmitten einer utopischen Idylle nicht schämten.

So demütigend die geschilderten Vorfälle mir in meiner damaligen Verfassung erschienen, brachten sie doch etwas Gutes mit sich, da sie Ernst und mich einander erkennen und verstehen ließen, so dass wir von nun an ein vorbildliches Gespann ergaben, gleich zweier Erbsen in einer Schote.

Hierzu sehe ich mich verpflichtet eine weitere Sache zu erwähnen, welche im weiteren Verlauf der Ereignisse nicht unerheblich scheint:

Die Abkehr von Walter erlaubte mir in den folgenden Wochen ganz eigene Gedanken zum Sperling zu verfolgen, welche zuvorderst einem äußerst störenden Effekt entgegenwirken sollten, in dessen Folge sich die Testkapsel immer wieder auf den Rücken zu drehen begann, so dass der arme Rattenpilot in höchster Irritation kopfüber in seiner Kanzel baumelte.

Der hieraus resultierende, neue Prototyp ◊Alpha-Sperling“ entbehrte ein klassisches Cockpit. Der Pilot wurde durch eine Klappe in den Flugzeugrumpf geschoben, welcher einem Torpedo immer ähnlicher wurde. Die Ratte befand sich nun in einem versiegelten Raum, welcher über ein Ventil mit Helium befüllt wurde. So lag der tapfere Nager ganz unnatürlich in einer Gasblase und bezog den für ihn lebensnotwendigen Sauerstoff durch eine speziell konstruierte Beatmungseinrichtung. Tagelang tüftelte ich an einer Gasmaske, die speziell auf die kleinen Schnauzen zugeschnitten war.

Mit dem Ziel Walter zu düpieren, schloss ich ihn weitestgehend von der Entwicklung dieses Modells aus. Er strafte mich mit kleinen Zetteln, welche er nachts an unsere Labortür zu heften pflegte. Auf ihnen notierte er Konstruktionsfehler des Alpha-Sperlings, welche gerade in jener Zeit zuhauf vorhanden waren. Einer jener Fehler – notiert auf Zettel 94 – zeichnete sich jedoch verantwortlich für den historischen Durchbruch, den anzudeuten ich mich seit Beginn nur schwer zurückhalten kann und der nun zu seinem Recht auf Erwähnung kommen soll!

Frage 21

wo und wie fand dieser von ihnen erwähnte Durchbruch statt? Erkannten sie bereits im moment der Entdeckung dessen potential?

Eines Morgens im späten September 1918 sperrte ich in gewohnter Manier das Labor auf – in Erwartung eines weiteren bemitleidenswerten Labortieres, das die nächtlichen Strapazen im Alpha-Sperling nicht zu ertragen im Stande gewesen war. Das kleine Cockpit lag jedoch nicht verschlossen auf dem Tisch, sondern war zur Seite gerollt und bot durch die aufgesprungene Luke Einblick ins filigrane Innere unseres Modells. Aus der solcherart klaffenden Öffnung baumelte ein kleiner Schlauch, an dessen Ende sich die Ratte kerzengerade in die Höhe reckte, mit den Füßen voraus und dem Kopf durch die Gasmaske mit dem Sperlingsbauch verbunden. Still pendelte sie im Luftzug der von mir geöffneten Tür – scheinbar bemüht, sich der Schwerkraft vollends zu entziehen.

Im ersten Moment überkam mich der Verdacht, Opfer eines optischen Tricks geworden zu sein – ganz so, als würde sich die Ratte in einer glatten Oberfläche spiegeln. Also bewegte ich mich weiter in den Raum hinein, um die Veränderung meines Blickes als Prüfmittel zu nutzen und das mich irritierende Gebilde als Täuschung zu entlarven. Mit jedem Schritt jedoch verfestigte sich meine Verwirrung und kroch mir hinauf bis in die Ohren, da sich das von mir vermutete Trugbild nicht als solches entlarven lassen wollte. Am Tisch angekommen, streckte ich meine Hand zum Objekt aus, um leicht jenen Schlauch zwischen Ratte und Modell zupfen zu können, auf den sich meine Verwirrung konzentriert hatte. Erst jetzt begann sich in mir die Erkenntnis zu verfestigen, dass der erste Vorbote einer ganz neuen Welt, einer neuen Natur sich über Nacht hier manifestiert hatte.

Auch wenn ich diese Szene alsbald mit Walter zu teilen suchte, um mir von ihm meine geistige Gesundheit quittieren zu lassen, so kreisten meine Gedanken in den darauf folgenden Stunden und Tagen doch wie magnetische Teilchen immerzu um diesen einen Moment. In jeder Erinnerungsschleife versagte ich erneut mit meinem Bemühen, das Gesehene schlüssig in all die anderen profanen und die paar  besonderen Eindrücke meines bisherigen Lebens einzufassen. Diese verzweifelten Ordnungsversuche durchkreuzte ein ums andere Mal ein Bild, das mich ausgesprochen verunsicherte: Es schien mir, als ob im Moment tiefster innerer Versenkung ein großer, hagerer Rattenmann sich Zugang zur Plattform meines Geistes verschaffte und mit traurigen Augen jäh in meine Seele hinabblickte, immer wenn sich die einzelnen Teile meiner verwirrenden Eindrücke einem Ganzen zu sehr anzunähern begannen. Solcherart aus der Fassung geraten, erwachte ich stets schweißnass in meinem Bett und wagte nicht wieder einzuschlafen, bis der Morgen mit seinen ersten Sonnenstrahlen alle Geister und bösen Gedanken aus dem Zimmer zu drängen begann.

Frage 22

Sie teilten ihre Entdeckung umgehend mit Dr. Strohbrück – weitere SChritte lieSSen jedoch auf sich warten. WElche gründe sehen sie für diese Verzögerung?

Das Schicksal wollte es, dass ich auf meiner ersten Runde durchs Haus taumelnd niemanden antraf und als ich meine Suche nach Ernst als erfolglos begriff, letztlich Walter aus seinem morgendlichen Bad aufschreckte. Rückblickend war das ein Glück, da es uns ermöglichte, zu zweit einen Umgang mit der Entdeckung zu besprechen, der langfristigen Bestand haben sollte und uns darüber hinaus die Gelegenheit zuteil werden ließ, jene kindischen Differenzen zu begraben, welche uns in den letzten Monaten entgegen unser beider Neigung entzweit hatten.

Walter übernahm die Führung in dieser außergewöhnlichen Situation, die mich gründlich überforderte. Sein Vorgehen lässt sich als überaus vorsichtig zu beschreiben, da er keinem der anderen Kameraden etwas mitzuteilen gedachte, solange wir in unseren eigenen Köpfen nicht im Stande waren eine Vorstellung dessen zu entwickeln, was uns  das Schicksal hier vor die Füße hatte fallen lassen. Walter erklärte es zu unser beider Ziel, zu allererst jene Maßnahmen bezeichnen zu können, mit deren Hilfe wir unsere Entdeckung der Gesellschaft optimal zu präsentieren in der Lage waren. Hierfür jedoch waren wir gezwungen, uns über die Einsatzbereiche des neuen Effekts im Klaren zu werden. Und dies setzte voraus, dass wir ein gründlicheres Verständnis der Vorgänge hinter unserer erstaunlichen Entdeckung gewannen.

So vereinbarten wir Stillschweigen und begannen zeitgleich zu ergründen, wie sich der Effekt wiederholen ließe, welcher die Ratte und – so unsere Hoffnung – auch andere Lebewesen in ein eigenständiges Luftgefährt zu verwandeln im Stande war. Walter war der festen Überzeugung, dass es unsere Pflicht zu sein hatte, dies alles zum Wohle des deutschen Volkes einzusetzen, um dem Menschen eine weitere Sprosse auf der Leiter des technischen und evolutionären Fortschritts gleichermaßen zu schenken. Diese Dimension schien ihm von Beginn an ganz klar gewesen zu sein.

Frage 23

Umreißen Sie bitte kurz die hierauf folgenden Ereignisse. Was geschah dann?

Was auf die geschilderten Ereignisse folgte, war nicht weniger als der Friedensvertrag und das war in der Tat ein Drama. Man kann wohl erwarten, dass die schicksalhaften Entscheidungen des November 1918 bekannt sind:

Nur wenige Tage auf diesen einschneidenden Morgen folgend, verbreitete sich das Gerücht, das Deutsche Heer bereite sich auf die Kapitulation vor. Wir mochten das nicht so recht glauben, auch weil dies wohl zur Folge gehabt hätte, dass der Sperling kein einziges Mal die Gelegenheit bekommen würde, sich im Feld zu beweisen. Ich erwähnte bereits, dass unser aller Wünsche und Ziele darauf ausgerichtet waren, dem deutschen Volk, das wir so wenig mit körperlicher Durchsetzungskraft zu bereichern im Stande waren, einen künstlichen Körper in Gestalt des Sperling zu schenken.

Nun sahen wir uns in der beinahe tragischen Situation, zugleich einen gewaltigen Sprung in unserer Forschung zu vollführen und zeitgleich einem Militär gegenüber zu stehen, das dieses unser Geschenk nicht anzunehmen in der Lage war. Kurzum, es sprachen einige Gründe dafür, das erwähnte Gerücht erst einmal nicht zu beachten.

Umso gewaltiger überrollten uns dann auch die historischen Ereignisse, als uns die unvermeidbaren Befehle dennoch erreichten. Bereits in der ersten Nacht nach der Kapitulation zog Ernst seine ihm ganz eigenen Konsequenzen und entfernte sich von der Truppe. Er entschwand, ohne mich oder jemand anderen mit einem einzigen Wort zu bedenken. Ich wurde lediglich eines Briefes gewahr, der am nächsten Morgen zu Füßen meiner Tasche auf dem Gang lag.

Darin fand sich ein Abschiedsgruß, den ich als warmherzig und um Verständnis flehend zu bezeichnen mich nicht scheue. Ernst gestand, sich vom Bedürfnis nicht befreien zu können, die gute Kameradschaft und Zusammenarbeit herauszustellen und sich hierfür zu bedanken. Ebenso war er bemüht zu betonen, wie sehr er diesen feigen und stillen Abschied bedauere. Nur verhielt sich die Sache so, dass er fest mit Repressalien durch den Feind rechnete, welchem gegenüber auch er keine Gnade hätte walten lassen, wie er unumwunden zugab. Als Leutnant der Luftwaffe fürchtete er die Möglichkeit, auf verschiedenste Arten als Opfer des gescheiterten Krieges seinen Kopf hinhalten zu müssen.

Sich diesem Urteil zu beugen sah Ernst in keiner Weise als soldatische Pflicht, sondern vielmehr als Anstoß zum Widerstand, weshalb er Richtung Friesland aufzubrechen plante, um sich dort einer, zwar aus dem Verborgenen agierenden, aber umso ehrenvolleren Verteidigung des Vaterlandes anschließen zu können. Er würde mich nie vergessen und man sähe sich immer zweimal im Leben, schrieb er noch.

Bis zu diesem Zeitpunkt nicht die Gelegenheit bekommen zu haben, Ernst in diese furiosen Neuigkeiten einweihen zu können, nagte und nagt noch immer sehr an meinem Gewissen. Oft dachte ich an ihn und die gemeinsamen Stunden, wie ich sie nicht erwartete ein weiteres Mal erfahren zu dürfen. Wie sehr hätte er verdient, seinen Teil zu unserer Unternehmung beisteuern zu können, welche im Zuge der neuen Verhältnisse jedoch ebenfalls ein jähes Ende fanden.

 

Gerade hatten wir begonnen, unsere Entdeckung genauer zu studieren. Es gelang eine Wiederholung der fliegenden Ratte, dann noch eine, und schließlich entdeckten wir das Loch im Atemgerät und die dortige Vermischung von Sauerstoff, von der Atemluft beigemischten Amphetaminen und Helium, welche sich in dieser Konstellation offensichtlich für die Verwandlung der Ratte verantwortlich zeigte.

Gerade hatten wir diese Mischung bewusst hergestellt und Ratten zugeführt, welche allesamt in erwarteter Weise vom Boden sich abhoben und zur Decke hin schwebten (woraufhin wir auf den Gedanken kamen sie mit einem dünnen Bindfaden an der Tischplatte zu fixieren, um anschließend nicht mit der Leiter und einem Schmetterlingsnetz durch den Laborraum wandern zu müssen, um die armen Versuchstiere wieder einzufangen).

Und gerade hatten wir begonnen zu erahnen, welche ganz neuen Möglichkeiten des Luftkampfes sich uns eröffneten, getrieben von der neuen, geheimnisvollen Substanz. Phantasien einer fliegenden Reichsarmee schwebten durch den Raum, Piloten ohne Fluggerät, die Racheengeln gleich vom Himmel stießen, um den Feind zu treffen.

Sie mussten jedoch vorerst Wunschdenken bleiben, denn wenige Tage darauf wurden auch wir offiziell ins Zivilleben entlassen.

Um es kurz zu machen: Während um uns herum das Land der Verlierer demontiert wurde, schafften wir als saarländische Flüchtlinge getarnt einen Teil unserer Laborausrüstung sowie die Forschungsergebnisse auf einem alten Karren zurück nach Offenbach.

Es muss ulkig ausgeschaut haben, wie Walter, eingekleidet in den Lumpen eines alten Weibleins, vorn auf dem Kutschbock saß, während ich in den heruntergekommensten Hosen, die man sich denken kann, unseren Karren die Landstraße entlang zog. Am Ende konnten wir unser Hab und Gut sicher ans Ziel schaffen und versteckten die wertvollen Teile unserer Laborgerätschaften in einer Scheune unweit des Werksgeländes.

Meine Hand schmerzt. Ist es möglich eine Pause zu arrangieren? Die ungewohnte Schreibarbeit mit Ihrem – mit Verlaub – antiquierten Federkiel erschwert mir eine gerechte und detailreiche Wiedergabe der Geschehnisse doch zunehmend.

Wir machen eine kleine Pause. Vielen Dank für ihre bisherigen aussagen, die uns Werk und wesen Dr. Walter Strohbrücks ein stück näher haben kommen lassen. wir werden den dialog wieder aufnehmen, so sich ihre Hand erholt hat, um weiteres zu erfahren.

Frage 24

Bereit? In der ewigkeit sind Pausen leider nur einen Wimpernschlag lang. Der Nachteil ewigen Lebens, über den selten jemand spricht.

Wir befinden uns zurück in Offenbach. Bitte beschreiben Sie ausführlich Ihre Rückkehr in die Hessischen Acetylenwerke. Konnten Sie an Ihren ursprünglichen Alltag anknüpfen?

Man kann von schweren Zeit sprechen, in denen sich Werk und Mensch nach dem Krieg befanden. Im wahrsten und tiefsten Sinne des Wortes. Alles war mir zäh, langsam und auf unbestimmte Weise träge geworden nach der benannten Rückkehr ins Offenbacher Werk. Walter und ich selbst blieben unverändert distanziert und nur selten brachte einer von uns mehr als ein trockenes Wort über die Lippen. Ich sah mich noch immer gekränkt durch Walters ganz intolerables Verhalten meinem Vater und der ganzen Truppe gegenüber. Und die bleierne Stimmung in der Fabrik trug nicht zu einer Besserung bei. An manchen Tagen, an denen die Wolken bis tief in die Schornsteine hinein krochen, erschienen mir unsere Hallen und Flure wie mit Beton ausgegossen. So sehr drückte es mich nieder, wenn ich gemeinsam mit den Kollegen meinen Dienst verrichtete – und noch mehr an jenen Tagen, an denen ich allein im Labor grübelte.

In Wahn war es mir gelungen, jeden Gedanken an eine mögliche Rückkehr in mein altes Leben ganz aus meinem Kopf zu verbannen. Geradezu widernatürlich und gänzlich falsch erschien mir dann auch die eigene Fügung ins Getriebe unserer Werksproduktion als es entgegen aller Prognosen doch dazu kam. Ganz, als wäre ich mein eigener, aus dunklem Papier geschnittener Zwilling, wandelte ich durch die Tage und fühlte mich wie in einer anderen Welt, die bis aufs letzte Atom der unseren glich, in der jedoch jeder kleinste Gegenstand die Seele eines Fremden beherbergte.

Ich befand mich zwischen Menschen, die, ungeachtet eigener Verdienste, als Produkt und Spielball ihres eigenen Schicksals den Weg zurück in die Heimat gefunden hatten. Es waren nicht viele. Drei meiner vormals acht jungen Kollegen waren nun bemüht, den Betrieb so gut es eben ging aufrecht zu erhalten. Hinter mir im Unterricht, der gegen alle Widrigkeiten aufrechterhalten wurde, saß nun Kollege Hasso Bellmer auf der Bank und quietschte mit seinen neuen, eingefetteten Lederriemen über die hölzerne Sitzfläche. Ihm hatte man einen Unterschenkel abgenommen, so dass er einem Piraten gleich durch die Gänge klapperte. Selbstverständlich wurde er von den Reinigungen der Becken freigestellt, was uns unglücklichen Anderen umso mehr Arbeit einbrachte, sobald wir den Unterricht Walters verließen.

Man kann sagen, dass sich im Grunde wenig geändert hatte. Es waren doch immer wieder dieselben Tätigkeiten, die ich erinnere unseren Alltag geprägt zu haben: Putzen, Lernen, Produzieren. Unsichtbares in Flaschen abfüllen. Wieder und wieder.

Die Auftragsbücher der HAW waren prall gefüllt, nachdem der Krieg für uns so schrecklich ausgegangen war. Im ersten Moment verwunderlich, erschließt sich dieser Umstand bei genauerem Hinsehen: In jenen Monaten war zu beobachten, wie die halbe Heimat demontiert und in seine Einzelteile zerlegt, in einem Nachbarland, gleich ob in Frankreich oder in England, einer neuen Nutzung zugeführt werden sollte. Kurz, es wurde viel geschweißt, ob Panzer, Schiffe, Bahngleise. Überall brauchte es Sauerstoff und Acetylen, das wir nach Kräften in unserer desolaten Verfassung uns bemühten in gewünschten Mengen zu produzieren.

So schob ich Sonderschicht nach Sonderschicht in verschiedensten Belegschaften und auch häufig mit Walter, da auch er sich dem Produktionsdruck letztlich nicht entziehen konnte und für die niederen Verrichtungen zu Verfügung zu stehen hatte. So kam es, dass wir uns Schritt um Schritt wieder einander näherten, auch wenn unter diesen Verhältnissen doch keine Zeit blieb, um unsere Forschungen aus Wahn weiter zu betreiben oder auch nur ausgedehnt darüber zu beraten.

Im Unterricht hingegen war Walter ganz beseelt von unserer Entdeckung jener letzten Forschungstage. Zwar sprach er niemals direkt von fliegenden Tieren oder Menschen. Es war jedoch ein Leichtes zu erkennen, wie tief ihn der Rausch gepackt hatte, einen ganz neuen Pfad der Wissenschaft als erster Kundschafter zu betreten und damit eine ihm eigene, ihm zu widmende Schneise ins Dickicht der Unkenntnis der Menschheit zu schlagen. Jedes seiner Worte zur sozio-chemischen Gesellschaft glühte förmlich, als wollten all seine Ideen und Gedanken gleichzeitig durch einen dünnen Draht zu den wenigen verbliebenen Studenten gelangen – ungeachtet des Umstandes, dass in unserem kleine Kreis niemand außer meiner Person die Faszination seiner Ausführungen zu würdigen gewusst hätte. Wenn er in diesen Momenten über seinen neuen Menschen, den sozio-chemischen Strohbrück-Menschen, sprach, sah ich uns nicht mehr in einem grün lackierten Ausbildungssaal eines mitteldeutschen Chemiefabrikanten, sondern in einer neuen Kirche, einem heiligen Ort, an dem ein vom Gott der Chemie erwählter Hohepriester seine neuartigen Riten vollzog.

Frage 25

Ihre Schilderungen klingen, als ob sie diese Zeit als eine Phase der Isolation erfahren hätten. Erinnern Sie Bilder oder Momente, die in besonderer Weise für ihre damalige Situation stehen könnten?

Ich erinnere mich an einen Morgen, es muss der 23. Dezember 1918 gewesen sein. Gemäß meiner Pflicht, eine halbe Stunde vor den Kollegen am Platz zu sein, um die nötigen Aufzeichnungen für den Arbeitstag zu erstellen, war ich früh aufgestanden. Nun lehnte ich schweigend und gedankenverloren am Fenster, vor dem sich eine Nebelbank in den schwachen Tagesanbruch schob und Lichter, Bewegungen und Geräusche zu schlucken suchte.

Ein kleiner Christmarkt kündigte das bevorstehende Fest an, über dem eben jene, meinem Auge sich immer wieder entziehende, Lampions angebracht worden waren und unter denen Menschen gerade in diesem Moment in nicht eben höflichem Ton sich gegenseitig ihre Meinungen darlegten. Ich blickte hinab auf die mit braunen Furchen durchzogene Pflasterstraße und den Platz dahinter, auf dem nun ein gutes Dutzend kleiner Buden ihre wenigen und dürftigen Waren feilboten. Wenig Schönes hatte ich dort gesehen, als ich vergangenen Tags eine schnelle Runde dort hindurch unternehmen konnte. Kandierte Steckrüben waren dieser Tage ein beliebtes Mittel junger Männer, den Damen ihres Herzens eine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In Geschmack und Konsistenz gleichermaßen schienen sie eine Prognose auf die gemeinsame Zukunft abzugeben. So sah ich ein ums andere Mal verliebte Paare solcherart über den Marktplatz schlendern: Die Dame untergehakt mit einem Arm, während die andere Hand eine Papiertüte mit süßem Inhalt balancierte, auf deren Form und Verpackung immer wieder kichernd verwiesen wurde. Selbst hinter meiner Glasscheibe im ersten Stock schoss mir die Röte ins Gesicht, als ich der Anspielung dieser jungen, wohl bald verheirateten Paare gewahr wurde.

Mein Beobachtungsposten an der Scheibe versetzte mich in die Lage, in aller Ruhe und ungestört meinen Blick schweifen zu lassen, denn mein Kollege und Zimmernachbar Paul galt seit dem Winter 1916 als verschollen und war eben jener Gruppe junger Männer zuzuordnen, die niemals wieder ihren Dienst am Acetylenbecken ausführen würden. So waren auch unsere in früheren Zeiten durchaus üblichen Konflikte endgültig ausgefochten, die stehts um Nutzung und Aufteilung des Brennmaterials unseres kleinen Ofens sich bewegt hatten. Daran in Gedanken noch hängend, entzündete ich ein kleines Feuer, um Tee zu kochen.

Bereits Wochen zuvor hatte ich entschieden, die Weihnachtstage nicht wie gewohnt im Kreis meiner Familie verbringen zu wollen. Statt dessen war es mein Wunsch gewesen, im Werk zu verbleiben und dort, jeder schweren Arbeit entledigt, einige Tage vollkommener Ruhe zu genießen. Den Vorwand eines gnadenlosen Produktionsplans legte ich meinen Eltern schriftlich dar und ließ ihnen diese schwache Entschuldigung postalisch zukommen. Meine verantwortungsvolle Rolle im Getriebe deutscher Produktion hervorhebend, erbat ich mir Verständnis für diese wenig feierliche Entscheidung.

Per Eilbote erreichte mich wenige Tage später ihre Antwort. Ein kleines Kärtchen sowie drei Pakete wurden mir mit ernster Miene übergeben – ganz so, als ob es sich um eine kaiserliche Depesche handele, anhand derer sich später in Geschichtsbüchern und bei Fackelschein das Schicksal eines Volkes in die ein oder andere Richtung fallend, erzählen lassen würde.

Ich überließ dem Boten ein bescheidenes Trinkgeld, wusste ich doch, dass mein Vater selbst den Gläubigsten seiner Angestellten nur mit Zähneknirschen ein Recht auf das ihnen so wichtige Weihnachtsfest zugestehen würde, ganz zu schweigen von einer Bezahlung für die so entgangenen Arbeitsstunden. Der Bote wünschte mir gesegnet zu werden und verschwand im unbeleuchteten Treppenhaus.

Ich öffnete das Kärtchen. Es enthielt einen kurzen Reim, der – frei übersetzt – ein frohes Fest zu wünschen sich herausnahm. Eine kleine Tanne illustrierte die heiligen Grüße. Anbei im ersten Paket fand sich ein Lehrbuch über Gummivulkanisierung. Kein schlechtes Geschenk, jedoch waren mir die Lektionen bereits ausführlichst bekannt, was meinen Eltern nicht bewusst gewesen sein dürfte. Ich hatte aufgegeben sie über den Fortschritt meiner Studien ins Bild zu setzen, da ich mich nicht in der Lage sah, meine ganz für mich entdeckte Freude an der Chemie den betrieblichen Spekulationen meines Vaters vor die Füße zu werfen, die, wie ich bereits schilderte, seit dem ersten Tag mein Schicksal in besonderem Maße zu lenken schienen.

Das zweite Paket beinhaltete einen Morgenmantel. Hübsch golden eingewebt auf blauem Grund fanden sich die Initialen O.O., wohl auf meinen Vor- und Zunamen verweisend, wie ich hoffte. Da aber auch hier das Spiel meines Vaters mit den für mich in hohem Maße demütigenden Vergleichen in unserer familiären wie betrieblichen Nachfolge nicht auszuschließen war, übergab ich dieses Geschenk als allererstes dem Feuer unseres kleinen Ofens. Bald darauf flackerten auch die letzten Seiten des Lehrbuchs in der kleinen gusseisernen Kammer, auf der leise und gleichmäßig mein Tee zu pfeifen pflegte.

Der Inhalt des letzten Pakets lag noch lang auf meinem Tisch, da ich am allerwenigsten mit ihm anzufangen in der Lage war. Es handelte sich um einen schmucklosen Holzkasten, von innen mit einem Papieremblem der Firma Orlovski versehen. Darin eine Kollektion der aktuellen Orlovksi-Bolzenkollektion. Akkurat beschriftet und aufgereiht wie Schmetterlinge in einem Setzkasten. Ich begann kleine Dinge wie Gummibänder, Heftklammern und Münzen darin zu sammeln und ließ sie auf dem Tisch stehen, an dem ich seit meiner Rückkehr kein einziges Mal gesessen hatte, um zu Essen oder Besuch zu empfangen.

Frage 26

Ihr Aufenthalt in Offenbach war kurz. Bald schon Übertrug man Ihnen andere Aufgaben. Wie kam es dazu und welche Rolle schreiben Sie Dr. Strohbrück in diesen VorkoMmnissen zu?

Sie haben ganz recht. Meine Tage in Offenbach waren zu diesem Zeitpunkt bereits gezählt. Nur wusste ich scheinbar als Einziger nichts von diesen Plänen, die doch meine Zukunft in ganz erheblichem Maße zu beeinflussen drohten. Ich selbst wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Eines Nachmittags sah ich Walter mit einigen Herren der Werksführung über den Hof spazieren, in eine leichte Unterhaltung verstrickt. Ich befürchtete, dass Walter ein weiteres Mal seinem verräterischen Naturell nachgegeben und unsere Entdeckung zu seinem eigenen Vorteil der Industrie verkauft hatte. Angst und Wut begannen erneut zwischen meinen Lungenflügeln zu kreisen wie kleine Geier – zu Unrecht, wie ich einige Tage später erfuhr, in denen ich voll Verzweiflung und Ohnmacht meinen Dienst im Werk verrichtete, ohne Walter ein weiteres Mal über den Weg zu laufen – was meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen schien.

Dann jedoch, an einem Dienstag in der Früh, es war die Stunde, in der man sich zur Inventur der Gasbehälter im Lager einzufinden hatte, wurde meine Person unerwartet in die Chefetage der HAW zitiert. Überrascht und auch ängstlich leistete ich Folge, dachte ich doch nach wie vor, dass Walter unser beider Zukunft für einen besseren Posten im Werk leichtfertig verschleudert hatte.

Man bat mich in ein Vorzimmer der prunkvoll ausgestatteten Räumlichkeiten unserer Eigentümer, in denen sich Arbeiter unseres Betriebs nicht nur deplatziert vorkommen mussten, sondern die aufgrund der Seltenheit ihrer Einladung und den dementsprechend außergewöhnlichen – und meist außergewöhnlich schlimmen – Anlässen geradezu gefürchtet wurden. Ganz wie ein heiliger Platz oder ein Totem den gläubigen Gemeinschaften fremder Völker regelrecht körperliches Unbehagen einzuflößen im Stande ist. Eine junge Sekretärin von atemberaubender Schönheit, wie ich mich nicht erinnern konnte sie jemals gesehen zu haben, bat mich freundlich lächelnd durch eine schwere hölzerne Flügeltür in das sich dahinter befindende Büro. Betäubt und eingeschüchtert wankte ich in den Raum. Dort saßen an einem großen Tisch, dessen Platte auf mehreren kunstvoll geschnitzten Arrangements von Schilfrohr, jungen Weiden und allerlei Fauna kleinerer Gewässer sich stützte, eine Gruppe ernst dreinblickender Männer in Anzügen sowie Walter Strohbrück. Alle zogen sie zugleich an ihren Zigarren, als bildeten sie einen organischen mehrzylindrigen Motor, dessen Kammern kreisrund um den Tisch angeordnet jede für sich blauen Rauch ausstießen, um in dieser Rhythmik eine mir verborgene Kurbelwelle anzutreiben.

Diese Eindrücke noch verarbeitend, wurde mir der eigentliche Anlass unterbreitet, der die unerwartete Nähe zwischen Walter und den HAW-Vorständen begründete: Unter dem Decknamen “Kormoran” sollten Walter und ich umgehend aufbrechen, um in Stralsund an der Ostsee einen geheimen Plan der HAW zu realisieren. Details würden per Umschlag auf der Reise übermittelt werden um größtmögliche Geheimhaltung unter den Werkskollegen sicherzustellen, was mir bei genauer Betrachtung unserer beider Position innerhalb der Belegschaft sowie unseres eher stillen Naturells reichlich übertrieben schien. Ich verließ das Zimmer mehr als irritiert mit der Anweisung, meine Habseligkeiten zu packen, um am folgenden Morgen die Reise nach Nord-Osten antreten zu können.

Wie mir geheißen war, bereitete ich alles auf die Abfahrt vor und fand mich dann auch gemäß unserer Verabredung am nächsten Morgen vor Walters Räumlichkeiten ein, um mich mit ihm gemeinsam in unser neues, unverhofftes Abenteuer zu stürzen. Zuerst einmal wurde mir jedoch bewusst, dass Walter nicht Willens noch körperlich in der Lage gewesen wäre, seine zahlreichen und außerordentlich schweren Gepäckstücke selbst in die bereitstehende Kutsche zu schaffen, weshalb ich, der ich mit Gepäck immer sehr sparsam umzugehen pflegte, dem Kutscher zur Seite gestellt wurde, um diese Aufgabe zu übernehmen.

Die Kutsche brachte uns anschließend, entgegen in mir aufkeimender, neuerlicher Befürchtungen, direkt zum Offenbacher Hauptbahnhof, wo wir ohne weitere erwähnenswerte Vorkommnisse in den Zug stiegen. Die Fahrkarten steckten gut und weithin sichtbar in Walters Brusttasche. Unter seinen Arm geklemmt trug er einen braunen Umschlag, dessen Beschriftung “Operation Kormoran” mit einem dünnen Stift ausgeführt worden war, was die Lesbarkeit erheblich erschwerte.

Erst im durch die HAW für uns reservierten Abteil angekommen und sitzend war ich mir der Richtigkeit meiner Beobachtung sicher. Als sich der Zug in Bewegung setzte, öffnete Walter das braune Couvert und wir waren endlich in der Lage Einblick in die uns zugedachte Aufgabe zu erlangen:

Die hessischen Acetylenwerke trugen sich mit der Absicht, vom bereits geschilderten Zustand der deutschen Industrie über die bisherigen Maße zu profitieren. Nicht nur die Herstellung von Acetylen und Sauerstoff, auch die Ausführung der praktischen Schweißarbeiten rückte ihnen ins Blickfeld und sollte zukünftig einen Teil der Gewinne des Werks sicherstellen. Ein lukrativer Standort für die Zerlegung allerlei stählerner Industriegüter benötigte jedoch nach allgemeiner Auffassung einen Zugang zum Meer, um An- und Abtransport in den erforderlichen Mengen garantieren zu können. Ein Merkmal, mit dem Offenbach sich nur bedingt schmücken konnte. War doch gerade die Dekonstruktion großer Schiffe besonders gewinnbringend durchzuführen. Auf der Suche nach passenden Standorten entlang der Nord- und Ostsee war den Herren die Hafenstadt Stralsund ins Auge gefallen. Um die genauen Bedingungen vor Ort zu eruieren und Vorzüge wie Nachteile nachvollziehbar zu dokumentieren, wurden Walter und ich in Folge dessen auf die Reise geschickt. Darüber hinaus wurden wir angewiesen in Folge eines eventuellen positiven Urteils sogleich die entsprechenden Maßnahmen zur Gründung eines lokalen Unternehmens zu ergreifen.

Das gerade wir mit solch einem Sonderauftrag betraut wurden, wird wohl eher eine Folge der dramatisch dünnen Personaldecke des Unternehmens als unserer herausragenden Qualifikation gewesen sein. Aber das konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt nur denken. Wir waren froh, erneut aus der beklemmenden Enge des Werks entkommen zu sein. Ich verbarg in mir jedoch auch die stille Hoffnung, meine, sich bald einem Ende zuneigende Ausbildung, um eine weitere Unterbrechung zu bereichern und damit meinen Wiedereinstieg ins Orlovski-Familienunternehmen – was nach wie vor ein festes Ziel meines Vaters war – erneut in die Zukunft zu schieben.

Ich musste unwillkürlich an eine kleine Halbschale aus Gummi denken, die mir einige Wochen zuvor im Werk in die Hände gefallen war. Sie war aus blass-rotem, weichem Material gegossen, so dass sich ihre Innenseite ohne große Kraftanstrengung nach Außen stülpen ließ. Einige Sekunden später sprang sie jedoch zurück in ihre ursprüngliche Form, was mit einem leisen “Plopp” zu geschehen pflegte. Legte man die Halbschale verkehrt herum auf den Boden, katapultierte sie sich mit dieser Umstülpung bis zu einem ganzen Meter in die Höhe, was sie zu einem beliebten Spielzeug für Kinder hätte machen können. Im Zug sitzend konnte ich meine Gedanken nicht von dieser sprunghaft sich umstülpenden und Frosch-gleich hüpfenden Gummischale wenden, während mein Blick abwechseln Walter streifte, der mir gegenüber im Abteil Platz genommmen hatte, und auf die Gruppen jener Gebäude fiel, die stetig spärlicher und brüchiger an unserem Fenster vorüberzogen und so das Ende der Offenbacher Vorstädte ankündigten.

Statt der mir drohenden Sackgasse hatte sich doch wieder ein kaum sichtbarer Weg, ein dünner Pfad aufgetan, auf dem ich nun leichten Herzens einer neuen Zukunft entgegen zu hüpfen im Stande war.

Frage 27

War Ihnen zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass im Deckel der Schachtel eine Plakette mit der Aufschrift „Orlovski & Sohn“ platziert war?

Nein, das war mir nicht bekannt.

Frage 28

Schildern Sie uns Ihre Ankunft in Stralsund. Welchen Eindruck gewannen Sie von der Stadt und welche Konflikte ergaben sich für Sie?

Als wir den Stralsunder Bahnhof am späten Abend erreichten, regnete es schon seit geraumer Zeit in Strömen. Walter und ich hatten es uns in unserer Kabine gemütlich gemacht und jeder für sich hatte einen Weg gefunden, die Reise so behaglich wie möglich zu gestalten. Für mich bedeutete dies, stundenlang den Blick nicht von der Scheibe abgewandt zu haben, an der die dicken, norddeutschen Regentropfen horizontal und damit parallel zur uns umgebenden Landschaft entlang liefen. Sie schillerten in immer tieferem Orange-Violett, nachdem die Sonne sich hinter eben jener triefnassen Feldmark gesenkt hatte, die wir mit unserem stählernen Transportmittel wie mit einem Gemüsemesser durchschnitten.

Planmäßig gegen Mitternacht erreichten wir den Stralsunder Bahnhof. Keine Menschenseele war zu finden als wir auf den gepflasterten Bahnsteig hinausstiegen. Erst nach einigen Minuten zeigte sich am Eingang des Bahnhofsgebäudes einer jener einheimischen Tagelöhner, welche wir zu unserer Ankunft in größerer Zahl auf dem Bahnsteig erwartet hatten, um unser Gepäck in Empfang zu nehmen. Dem nun einzig uns zur Verfügung stehenden Exemplar konnten wir mit einigen Münzen unseren Plan schmackhaft machen, das bereits vollständig aus dem Zug geschaffte Gepäck zum Hotel zu befördern, das einige Meter hinter dem Bahnhof liegen sollte.

Der bemitleidenswerte Herr jedoch rutschte auf dem nassen Untergrund aus, beladen wie ein Esel, und wäre beinahe ins Gleisbett gestürzt, hätte ich ihn nicht gerade noch am Kragen seiner völlig durchnässten Cordjacke packen können. Schlimmeren Verletzungen nur knapp entkommen, hatte er sich jedoch seinen Knöchel solcherart verdreht, dass es ihm unmöglich wurde, unsere Koffer den noch verbleibenden Weg zur Unterkunft zu schaffen. Weder Drohungen, ihm den vereinbarten und bereits gezahlten Lohn wieder zu entziehen, noch die Aussicht auf eine deutliche Erhöhung der Summe konnten ihn aus seiner invaliden Lage locken.

Unter einiger Anstrengung wuchtete ich nun also allein unser beider Ausrüstung hinüber zum Strelasunder Hof und dort in den ersten Stock, wo die HAW bereits unsere Bleibe der nächsten Tage und Wochen organisiert hatte. Eine ältere Dame im Morgenrock bemühte sich uns die Schlüssel hierfür auszuhändigen. Der Regen trommelte ein Stakkato auf das dünne Holzdach der Eingangshalle, unter dem wir in ein Treppenhaus schritten, durch welches ein kleiner Bach seinen Weg von der unverputzten hinteren Wand entlang zu den hölzernen Stufen einer schmalen Treppe bahnte, entlang der auch wir unseren Weg zu den Zimmern zu finden hatten. Vom Dach her gluckerte und rauschte es derart, dass mich die Angst packte, das Haus würde im Verlauf dieser unserer ersten Nacht bereits fortgespült in die unbarmherzige See oder zumindest einstürzen und uns unter seiner maroden Konstruktion begraben. Nichts dergleichen geschah jedoch. Vielmehr betraten wir unser Zimmer, das in Qualität und Ausstattung leider keine weiteren Überraschungen bereithielt und wir fielen sogleich in einen klebrig-unruhigen Schlaf.

Gleich am nächsten Morgen, noch bevor wir unser ebenfalls recht mageres Frühstück einzunehmen uns entschieden, machte Walter sich auf die Suche nach der kleinen, gusseisernen Reiseschreibmaschine in seinem Gepäck, stellte sie auf den Tisch und befahl mich an die Tasten. Er diktierte mir einen solcherart gepfefferten Brief an die Werksleitung daheim in Offenbach, dass ich ihn während des Tippens ab und an entschärfen musste – auch wenn ich den Vorwürfen inhaltlich durchaus zustimmte.

Frage 29

Die nach Ihrer Aussage geplante Gründung einer Werft scheiterte kurz darauf. Ab wann war Ihnen persönlich klar, dass sie Ihren Auftrag nicht ausführen würden und warum?

Zuerst wäre zu erwähnen, dass wir nicht lange auf eine Antwort aus Offenbach zu warten hatten. Bereits wenige Tage nach unserer Ankunft und den damit verbundenen, bereits geschilderten Enttäuschungen erhielten wir einen jener seidenfeinen Büttenpapierumschläge, in denen die HAW ihren Schriftverkehr zu tätigen pflegte. Darin zu lesen war eine kurze, ambivalent zu nennende Erklärung: Der geschilderte Zustand unserer Bleibe wäre nicht bekannt gewesen, man hätte sich auf die Aussagen und Dienste eines Bekannten des stellvertretenden Direktors verlassen, der vor einigen Jahren einmal da gewesen sein wollte. Eine Ruine, wie Dr. Strohbrück sie beschrieb, hätte man selbstredend nicht erwartet. Allerdings müsse man auch darauf hinweisen, dass von allen Beteiligten eine grundlegende Opferbereitschaft für diese Unternehmung zu erwarten wäre. Aus diesem Grund hätte man gerade uns beide ausgewählt, da man vom kompromisslosen Eroberergeist dieser beiden unserer Erscheinungen in hohem Maße beeindruckt gewesen sei. Zwar mochten wir uns den erwähnten Eroberergeist gegenseitig nicht recht zuerkennen. Trotzdem richtete dieses Lob von höchster Stelle unser lädiertes Selbstvertrauen ein wenig auf. An der Innenseite unserer Zimmertür hing – wohl zur Dekoration – ein Plakat der Stralsunder Wallensteintage 1912 an drei kleinen Nägeln. Walter hatte das Antwortschreiben an einem dieser Nägel befestigt und dort hing der Brief auch, solange wir in der Herberge verblieben.

Bereits vor Tagen hatte es aufgehört zu regnen. Jenes apokalyptische Stralsund, durch welches wir unseren Weg in der ersten Nacht hatten finden müssen, war seither nicht wieder in Erscheinung getreten. Vielmehr präsentierte sich uns eine alte schöne rotklinkerne Stadt am Meer, welche das Versprechen aufstrebender Industrie mit einer stolzen Vergangenheit norddeutscher Hanse zu verbinden suchte. Tiefer Nebel hing von Tag zu Tag über der Stadt, welcher uns jedoch zu keiner Zeit unseren Mut zu nehmen im Stande war, sondern vielmehr dem Wunsch entsprach, sich dem Blick unseres fernen Auftraggebers so lang und gründlich wie möglich zu entziehen. So verlebten wir einige Tage erholsamer Zurückgezogenheit am Stralsunder Hafen und sahen die Schiffe ein- und ausfahren – einige Tage stillen Glückes, die so spiegelglatt dahinglitten, wie es nur ein Lichtstrahl auf der windstillen Ostsee vermag.

Solcherart geerdet machten wir uns an die Erfüllung unseres Auftrags. Ein Termin zur Besichtigung des angedachten Geländes zur Errichtung der HAW Werkstätte wurde bereits in diesen ersten Tagen ermöglicht und so machten wir uns zu Fuß auf den Weg jene Parzelle Land zu begutachten, an die man gedachte stolze deutsche Stahlschiffe zu schleppen, um sie in Einzelteile zu zerschneiden und wie ein filetiertes Rind nach Großbritannien zu verschiffen. Im zu dieser Jahreszeit üblichen Schlamm des küstennahen Weges benötigten wir wohl etwa eine Stunde hin zu jener kleinen Bucht, welche, durchaus mit dem rauen Charme norddeutscher Landschaft bedacht, uns einen freien Blick auf das gegenüberliegende Ufer Rügens ermöglichte.

So standen wir auf einer kleinen Düne und sahen zwischen uns und der Insel eine Gruppe Möwen sich versammeln. Es war Walter der, trotz seiner Sehbehinderung, folgende schicksalshafte Beobachtung machte: Die Möwen vor uns schwammen nicht etwa auf der Wasseroberfläche – sie standen mit ihren kurzen Beinen im offensichtlich sehr flachen Wasser und wateten durcheinander auf der Suche nach Würmern und kleinen Krebsen – ohne jemals den Grund unter den dürren Beinen zu verlieren. Uns leuchtete augenblicklich ein: Kein Schiff würde hier jemals anlanden, so man es nicht einen guten Kilometer durch den Schlick ziehen oder unter größten Mühen eine Fahrrinne eigens zu diesem Zweck ausgraben lassen würde. Der Plan, welcher uns für Monate von unseren alltäglichen Verpflichtungen wegzutragen versprochen hatte, drohte bereits nach wenigen Tagen zu scheitern.

Frage 30

Warum sind Sie in Folge dieser Erkenntnis nicht gemäß der getroffenen Absprachen nach Offenbach zurückgekehrt?

Es bedarf einer großen Portion Offenheit und Ehrlichkeit zu dieser Beichte, aber bereits bei Antritt unserer Reise waren wir beide davon überzeugt, niemals nach Offenbach zurückzukehren. Teils blendeten wir die zeitliche Befristung aus, die unser Auftrag mit sich brachte, teils begann bereits vor unserer Ankunft eine gewisse Ahnung sich auszubreiten, dass auch unter Zuhilfenahme unlauterer Mittel unser Fernbleiben so lang wie möglich aufrecht zu erhalten sein würde. Nun jedoch, nachdem unsere Mission auf solch gnadenlose Weise ihre Grenzen aufgezeigt bekommen hatte, traf uns die Befürchtung unserer baldigen Rückkehr in den ungeliebten Werksalltag umso härter. Einen repräsentativen Überblick über die vorgefundenen Umstände zu entsenden kam zu keinem Zeitpunkt in Frage. Ganz unser beider Natur entsprechend, entledigten wir uns dieses Dilemmas vorerst durch einen gemeinsamen Rückzug auf bekanntes Terrain – und widmeten uns bereits am selben Nachmittag unseren bislang so sträflich vernachlässigten Forschungsergebnissen aus der gemeinsamen Zeit in Wahn.

Einige Wochen konnten wir uns ungestört diesen unseren Fragen widmen, auf welche wir Schritt für Schritt Antworten zu finden im Stande waren und deren sichtbare Erfolge uns bald neuen Mut verliehen: Es schien, als wäre in jener Stunde Null der fliegenden Menschheit, die gleichzeitig eine der letzten Stunden des großen, uns umgebenden Krieges gewesen war, ein Leck in der kleinen Gasmaske unserer Ratten entstanden, durch das sich Helium, Sauerstoff und eine Anreicherung von Amphetaminen zu vermischen die Gelegenheit fanden. Alle drei Mittel wurden jenem Modell per Schlauch zugeführt, auf das unsere Forschungen sich in diesen Tagen gestützt hatte. Offensichtlich ließ die kombinierte Einnahme dieses Gasgemisches jene chemischen Eigenschaften entstehen, welche die Ratten zum Schweben brachten, wie wir bald in neuen Versuchen nachzuvollziehen in der Lage waren.

Wir hatten einen kleinen Teil der benötigten Ausrüstung in unserem – Walters – Gepäck mit uns nehmen können, welches wir nun in unserem Quartier des Strelasunder Hofes auf dem Tisch und über das gesamte Zimmer ausbreiteten. Walter war es gelungen, einen Käfig mit Kaninchen auf dem Wochenmarkt zu erstehen. Für kleines Geld wechselten mehrere der possierlichen Tiere in unseren Besitz. Weit schwieriger war es gewesen, die anderen benötigten chemischen Mittel in Stralsund zu erlangen, wo doch die Stadt selbst über keine nennenswerte Industrie solcher Art verfügte. Es gelang mir jedoch, durch geduldige Nachforschungen einen örtlichen Apotheker ausfindig zu machen, über welchen wir unter anderem eine solche Flasche Helium in unseren Besitz würden bringen können. Genau jene Viertelstunde abpassend, in der sich der alte Apotheker mit seiner Zeitung hinters Haus in die kleine, hölzerne Latrine zurückzog, sein Sohn jedoch noch nicht vor Ort war, um den Laden seiner statt zu führen, wurde ich der illegitime Besitzer einer kleinen Flasche Helium. So war es uns möglich, unsere neuen Haustiere in zahlreichen Versuchsreihen mit verschiedenen Mischverhältnissen und Dosierungen zu konfrontieren, wobei es uns gelang, innerhalb kürzester Zeit ein Gefühl für die richtigen Mengen und Mischungen zu erlangen.

Zahlreiche dieser Versuche konnte ich fotografisch dokumentieren. Bereits in den ersten Tagen unseres Aufenthaltes im Strelasunder Hof bot sich mir die glückliche Gelegenheit eine Kamera zu erstehen. Sie war Teil des Nachlasses eines unbekannten Gastes gewesen, der während seines Aufenthalts im Hof verstorben war, noch bevor er seine Zimmerrechnung zu begleichen die Möglichkeit gehabt hatte. Daraufhin setzte die Wirtin unter dem gestrengen Blick einiger Stralsunder Schutzmänner eine kleine Auktion an, welche dem Zweck zugedacht war, eben jene entstandenen Unkosten zu decken. Versteigert wurde das Hab und Gut des Verstorbenen. Die anwesenden Bieter waren zumeist andere Bewohner der Pension. Schuhe, Gürtel und Bücher fanden schnell einen neuen Besitzer. Ich war jedoch der Einzige, der sich für die brandneue Fotoapparatur interessierte, die der Gast hinterlassen hatte.

So vergingen unsere Wochen in glückseliger Betriebsamkeit, jedoch in steter Spannung, die eigentlich uns betreffenden, unlösbaren Probleme nicht weiter fernhalten zu können. So kam es dann, dass ein weiterer Brief der HAW uns – bildlich gesprochen – aus unserem selbst gegrabenen Kaninchenbau an den Füßen herauszuziehen drohte, mit den von ihm beinhalteten Fragen nach Stand und Lage unserer Unternehmung vor Ort.

Frage 31

Anschließend begannen Sie sich in Widersprüche zu verwickeln. Bitte bewerten Sie Ihr gemeinsames Vorgehen und insbesondere Ihre Kontaktaufnahme zu Freymuth Kienzle.

Bei genauer Betrachtung war unser Lügengebäude lange nicht so verworren, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Im Grunde verhielten wir uns beinahe so, wie es eine positive Begutachtung des erwähnten Grundstückes erforderlich gemacht hätte. Dem Werk sandten wir einen durch und durch positiven Rapport unserer Aktivitäten, wobei die überaus geeignete Lage, die hilfsbereiten Einheimischen und das gute Klima besondere Erwähnung fand. Überhaupt schmückten wir den Bericht derart mit überflüssigen Details und Anekdoten aus, dass ich mich beim Korrigieren des Schreibens leisen Zweifeln nicht erwehren konnte – unbegründet jedoch, wie sich bald herausstellen sollte, denn Nachfragen hatten wir keine zu beantworten. Unseren eigenen Ausführungen Folge leistend, kontaktierten wir das örtliche Geldinstitut – eine Filiale der Deutschen Reichsbank unter Leitung des von Ihnen bereits erwähnten Bankdirektors Freymuth Kienzle – um eine Finanzierung unseres nunmehr fiktiven Bauvorhabens zu besprechen.

Das auf diesem Wege erschlichene Geld sollte, gemäß unserem wenig durchdachten Plan unseren weiteren Lebensunterhalt sichern und die weiteren Forschungen ermöglichen. Man könnte sagen, wir taten alles dafür, eine Katastrophe zu produzieren.

Am Tag des Kreditgesprächs saßen wir dann an Kienzles Schreibtisch inmitten seiner Stralsunder Reichsbankfiliale – in neuen Anzügen und nervös mit den Knien zuckend. Ich erinnere Freymuth Kienzle einem Walross gleich hinter seinem Tisch sitzend, wie auf einem Felsen, schnaufend und seine Barthaare mit der Rückhand immer wieder glattstreichend. Eine Schweißperle rollte ihm von der Stirn hinab bis zur Oberlippe und tropfte von seinem voluminösen Schnauzer auf die vor ihm liegenden Unterlagen. Lange blickte er abwechselnd auf die unterschiedlichen Papiere, welche Walter und ich in längerer Vorbereitung des Treffens allesamt zusammengestellt und zum größten Teil frei erfunden hatten. Kienzles schwerer Kopf wand sich übermäßig träge bald nach links, bald nach rechts, um Zahlen und Zusammenhänge der verschiedenen Papierbögen miteinander zu vergleichen. Zwischendurch hob er den Kopf und blickte uns beide mit zusammengekniffenen Augen an, ganz so, als wittere er den Betrug, den wir ihm unterjubeln zu können glaubten.

Es war, als suchte er in unseren Gesichtsausdrücken nach einer Fährte, der er zu folgen vermochte. Und als er die Spur aufgenommen hatte, schien es mir, als spannte sich der ganze große Körper zum Sprung über den Tisch. Er richtete sich auf und faltete die dicken, kleinen Finger über unseren Unterlagen. In ruhigem Ton bat er Walter, noch einmal in eigenen, freien Worten zu erklären, wie sich die HAW eine Abwrackwerft direkt am Strand hinter Stralsund vorstellen würde – zumal ihm, der sich selbst in jeder Hinsicht als gut informiert betrachtete, keine Kaufverträge des genannten Grundstücks bekannt wären.

Walter sah sich nicht in der Lage, mehr als einige unverständliche Wörter hervorzubringen, bevor Kienzle ihn mit seinem nächsten, vernichtenden Schlag überzog: Wie er das Problem der fehlenden Fahrwasserrinne zu lösen gedenke. Es sei doch sicherlich bekannt, dass der Bodden vor Stralsund flach sei wie eine Pfütze. Ich war so ungemein beschämt, ganz als säße ich meinem Vater gegenüber, welcher einen, in kindlicher Naivität erdachten, ganz hervorragenden Plan, in einem Augenblick als Träumerei zu verurteilen in der Lage gewesen war, welche, unfähig zu eigenständiger Existenz, keine Gnade von ihm zu erwarten hätte. Meinen Blick und meinen ganzen Körper drückte es zur Seite im Bemühen, sich dieser Situation zu entziehen, ohne durch zu offensichtliche Regungen die vernichtende Aufmerksamkeit Kienzles auf mich zu ziehen.

Dabei fiel mein Blick auf eine Fotografie an der Wand. Darauf, vor zahlreichen Rohren und Gefäßen, stand eine Gruppe Männer, die gemeinsam eine Flasche in die Höhe hielten. Einer von ihnen war als Freymuth Kienzle selbst zu erkennen. Darunter war in goldenen Lettern geschrieben: ◊Stralsunder Goldwasser – ein königlicher Genuss“. Kienzle, meinem Blick folgend, verlor offensichtlich das Interesse an diesem seinem ungleichen Kampf.

Selbstredend war unser Kreditantrag bar jeder Chance auf Bewilligung. Kienzle hatte jedoch auf unergründliche Weise Gefallen an uns beiden gerupften Vögeln, deren wahre Motivation unter all ihrem amateurhaften Gestammel nicht recht zu erkennen war. So lud er uns am Ende dieses beschämenden Gesprächs ein, ihn Tage später im bekannten Stralsunder Club Royal auf einen Drink zu treffen. Mit gemischten Gefühlen – maßlos enttäuscht über den gescheiterten Plan und doch neugierig auf die unverhoffte Einladung in Kienzles exklusiven Club – taumelten wir, ausgelaugt und taub von der andauernden Nervosität, auf die Straße.

Frage 32

Sie entschieden sich dazu, Kienzle einzuweihen und mit Ihm zusammenzuarbeiten. Wie ordnen Sie die Motivation von Herrn Kienzle ein, auf Ihr Angebot einzugehen?

Wir sahen uns einem längeren, mit Wendungen und Dramatik versehenen Entscheidungsprozess ausgesetzt, den ich kurz sortieren und zusammenfassen möchte. Wie ich bereits erwähnte, ergab sich aus unserem Kreditgespräch keine Finanzierung des mittlerweile fiktiven Bauprojekts, wohl aber Verbindung zum einflussreichen Freymuth Kienzle. Dessen anfängliche Motivation sich uns zuzuwenden wird wohl ein Rätsel bleiben. Denkbar wäre jedoch, dass ihn sein Instinkt, wie Ihn Geschäftsleute ab und an zu haben pflegen, gleich einer uns verborgenen Witterung, zu uns geleitet haben könnte.

So nahmen wir seine Einladung an und fanden uns zum vereinbarten Tag im Club Royal ein – dem gehobenen Etablissement am Ort und Treffpunkt der Stralsunder Oberschicht. Er befand sich nicht weit ausserhalb der Stadt auf einem kleinen felsigen Hügel am Meer, der es vollbrachte, Gartenkunst als ästhetisch vollendeten, neuzeitlichen Verteidigungswall zu interpretieren. Rautenförmig wanden sich Buchsbaumhecken die Erhebung hinauf, in geduldiger Erwartung einer Belagerung durch die Arbeiterklasse. Gründe zu einer Erstürmung wären durchaus vorhanden gewesen, hätte jemals ein Arbeiter das Innere des Clubs zu Gesicht bekommen – und wäre wieder herausgekommen um den anderen davon zu berichten. Eine asphaltierte Straße, gemacht für schicke Automobile statt für Menschen, führte durch dieses grüne Labyrinth hinauf ins Herz des Wohlstands von Stralsund.

Wir warteten im Empfangsraum des Club, der sich in Pracht und Protz noch zurückzuhalten in der Lage sah. Im Wartesaal drückte Walter sein Kreuz in die überaus weichen, kleinen Polster der Rückenlehne eines Kirschholzstühlchens, welche uns beiden jeweils für die Wartezeit herangetragen worden war. Ich hatte meinen Kopf in den Nacken gelegt und betrachtet das Deckenfresko der Empfangshalle. Darauf ein muskulöser Meeresgott mit grünen Haaren und einem gezwirbelten Schnurrbart. Zur Linken einen silbernen Dreizack, zur Rechten ein graues Pferd, das sich nahtlos aus einer gewaltigen Schaumkrone zu lösen schien. Spiralförmig im Hintergrund wanden sich zahlreiche Fischfrauen – menschlich bis zum Hals mit dem Kopf eines Karpfens. Ihre grazilen Beine ineinander verschlungen, die Hände auf den Brüsten der jeweils vorherigen Schwimmerin bildeten sie ein dichtes Netz, das Neptun zu umschlingen drohte – oder einzuwickeln versprach. Sein Blick legte beides nahe.

Ein kleiner Mann öffnete die Tür. Ihn zierte eine Uniform, die entfernt an die Tracht eines Toreros erinnerte. In Gelb, Rot und Blau fielen Rüschen hinab auf seine Beine und Arme. Ich war einigermaßen irritiert über diese Aufmachung. Mit einem künstlichen französischen Akzent stellte sich der Mann als Monsieur Fachauvi, rechte Hand des Herrn Kienzle, vor. Meine Irritation wuchs, zumal er zwischen all den französischen Vokabeln nicht leicht zu verstehen war. Wir folgten ihm in ein Kaminzimmer, in dem Freymuth Kienzle höchst selbst am Kamin saß und drei kleine Gläser goldener Flüssigkeit einschenkte.

Wie sich herausstellte, war das (noch heute über die Region hinaus bekannte) Stralsunder Goldwasser eine Erfindung Kienzles und einiger mit ihm befreundeter Amateurchemiker. Statt Blattgold in das Getränk zu streuen wie die Prager oder Schwabacher Brenner es zu tun pflegten, hatte die kleine Truppe in den letzten Tagen des Kaiserreichs eine Möglichkeit gefunden Eierlikör mit einem goldenen Pigment zu versetzen, das zugleich bekömmlich war und sich nicht auf dem Flaschenboden absetzte. Die bisherigen Versuche der kleinen Gruppe, diese Spezialität in Stralsunder Kneipen darüber hinaus zu etablieren waren jedoch mit wenig Erfolg beschieden gewesen. Zu lang hatte der Korn die Menschen hier durch schwere Zeiten getragen, dass man nun so einfach seine Gewohnheiten hätte ändern wollen.

Kienzles Ausführungen zur Entstehung des Stralsunder Goldwasser wurden von ausladenden Monologen flankiert, seine Sicht auf verschiedene Innovationen und das Unternehmertum generell ins Bild rückend. Als er jedoch entschieden hatte, dass die seiner Meinung nach relevanten Fakten für uns nun miteinander verwoben waren, kam er dann endlich zum eigentlichen Grund seiner Einladung: Er und seine Kumpanen erwogen, eine Variante des Goldwassers mit Kohlensäure versetzt auf den Markt zu bringen um zu sehen, ob der Absatz des Getränks sich nicht auf diese Weise steigern ließe. Als er nun zu unserem Kreditgespräch realisierte, zwei Herren mit exzellenten Kenntnissen in der Gasgewinnung vor sich zu haben, entschloss er sich zu handeln.

Kienzle wollte uns abwerben. Walter und ich, sichtlich überrumpelt von dieser schicksalhaften Wendung, erbaten uns Bedenkzeit und verließen das Haus. Walter war alles andere als überzeugt von diesem Angebot, drohte es doch unsere gerade neu gewonnene Autonomie durch neue Abhängigkeiten und Profanitäten zu ersetzen. Gedanken in und her schiebend liefen wir durch die Straßen, bis wir uns in einer Hafenkneipe niederließen um zu erproben, ob nicht ein Glas Bier unsere Gedanken auf den richtigen Pfad zu lenken im Stande wäre.

So saßen wir eine Weile beisammen und fühlten uns gleich zwei Seiltänzern im Nebel – egal in welche Richtung man zu hangeln übereins käme, man schien ins graue Nichts zu laufen. Nach einiger Zeit jedoch half das Bier in gewohnter Weise doch eine dritte Gelegenheit zu entdecken, die direkt unter unseren Füßen den Boden sichtbar machte, auf das der Sprung vom Seil als Alternative in den Blick rückte und nicht mehr ganz so tödlich schien: Wir beschlossen die Karten offen zu legen und Kienzle in unsere Helitmain-Forschung einzuweihen, um ihn unsererseits von seiner Spirituosenproduktion abzuwerben und ihn in unser Vorhaben als Geschäftsmann und Finanzier zu integrieren.

Darüber war es Nacht geworden und wir zwei fröhlichen Gesellen, glücklich zu einem Weg aus unserem Dilemma gelangt zu sein, traten auf die Straße, voller Tatendrang und Redebedarf mit unserem neuen Partner und Freund Freymuth Kienzle. In heiterer Stimmung schlugen wir unsere ursprünglichen Pläne in den Wind, am nächsten Morgen einen weiteren Termin mit seinem Bankiersbüro zu vereinbaren und ließen uns von einer der wenigen mietbaren Kutschen Stralsunds in standesgemäßer Weise direkt zu Kienzles privater Residenz befördern.

Freymuth Kienzle öffnete uns persönlich die Tür und ließ uns wortlos eintreten. Sein Pyjama zeigte eine mittelalterliche Jagdszene in Blau und Orange. Auf dem Rücken prangte ein Hirsch, an einen Pfahl gebunden, der von zahlreichen Pfeilen durchbohrt zu Boden sank. Ihn umgaben junge Männer mit Armbrüsten, spitzen Nasen und spitzen Hüten. Ich hatte einige Zeit die Gelegenheit, die Seidenstickerei zu betrachten, während wir ihm folgend durch die spärlich beleuchtete, jedoch sehr große Wohnung schritten.

Kienzle leuchtete uns den Weg mit einer goldenen Öllampe, die er am erhobenen Arm vor sich her durch die Gänge trug. Der gelbe Lichtschein glitt über Regale, in denen sich perlmuttene Vasen, bronzene Figürchen, geschliffene Gläser und ornamental verzierte Buchrücken im Art Nouveau Stil stapelten. Ich beobachtete, wie Walter diese Sammlung moderner Wiener Handwerkskunst im Vorbeigehen bewunderte, was er mir durch seine ehrfurchtsvoll hochgezogenen Augenbrauen verdeutlichte. Kienzle drückte einen Türgriff, der einer Seerose mit sich verästelnden Wurzeln nachempfunden war und führte uns in einen großen Raum, beleuchtet von einem grün gekachelten Kamin, an dem sich bronzene Flammen, Efeu gleich emporrankten.

Im Kaminzimmer war der uns bereits bekannte Monsieur Fachauvi bereits im Begriff drei geschliffene, kleine, gläserne Becher mit Likör zu füllen und diese auf einem kleinen Beistelltisch zu platzieren, der von einer mamornen Wassernymphe gestützt wurde. Er trug ebenfalls einen bestickten Pyjama. Dieser zeigte eine Szene aus dem alten Testament. Eine Frau beugte sich hinab zu einem Weidenkörbchen. Links und rechts davon bogen sich Schilfrohre entlang der Ärmel, die in goldenen Fransen ausliefen und von den Ellenbogen herabhingen.

Walter wagte den Schritt ohne Umschweife direkt aufs Thema zu. Er entschuldigte sich, im Gespräch am heutigen Mittag nicht sofort zu einer Entscheidung fähig gewesen zu sein. Ganz und gar unangebracht wäre die Unverbindlichkeit gewesen, mit dem man dieses sehr lehrreiche und vertraute Miteinander hatte ausklingen lassen. Jedoch wäre es – wie so häufig – etwas Gutes, wichtigen Entscheidungen einem zweiten Blick zu unterziehen. So sei es nun möglich, die Dinge zu ordnen und Kienzle unsererseits ein Angebot zu machen, in dem sich mit Sicherheit beiderseitig Interessen einbringen lassen würden. Walter breitete unter Schmeicheleien und Verrenkungen zusehends den Boden aus, auf dem wir in der Lage waren, unsere Forschungen zu präsentieren.

Nach und nach eröffneten wir Kienzle unsere Entdeckungen, denen er, von seinem Ohrensessel aufgesprungen, bei flackerndem Kamin schweigend gehör schenkte. Als Walter zum Ende kam, kramte ich wie zuvor besprochen einige der Aufnahmen aus meiner Tasche, die ich von den schwebenden Kaninchen in unserer Pension angefertigt hatte und reichte sie Walter. Kienzle, nach unseren Ausführungen mehr und mehr hypnotisiert, betrachtete lang die kleinen Bildchen, die unsere Fortschritte klar und deutlich hervorhoben. Auch Monsieur Fachauvi hatte seine Arbeit unterbrochen. Mit dem Staubwedel in der Hand stand er im halbdunklen Raum und lauschte der Erzählung.

Kienzle, schob sich auf seinen Pantoffeln von einer Seite des Raumes zu anderen, immer wieder in Richtung der Bilder blickend, die Walter nach wie vor einer Ikone gleich in die Höhe hielt. Ab diesem Zeitpunkt waren wir uns sicher, dass wir mit seiner Unterstützung in unserer Unternehmung rechnen konnten. Zu sehr war erkennbar, dass auch Freymuth die enormen Möglichkeiten, welche das Helitamin zu bieten hatte, erfasste und bereits für sich im Stillen in seine ganz eigene Währung umzurechnen begann.

Frage 33

Bitte schildern Sie uns Ihre Erinnerungen an den 11. Mai 1920.

Von diesem Tag berichte ich ausgesprochen gern. Er war wohl ein Samstag und es schien die Sonne über Stralsund. Ich hatte mich bereits am frühen Morgen entschlossen, am Hafen Heringe für das Abendessen zu kaufen, was ich in aller Frühe auch tat. Auf dem Rückweg nahm ich einen Umweg entlang des Ufers, um die gute Luft und das wunderbare Farbenspiel der aufgehenden, mal gelblich, mal fliederfarben sich über den ganzen Himmel erstreckenden Sonne zu genießen. Ich balancierte am Kai entlang und schob kleine Kiesel mit dem Fuß ins Wasser, was hier und da die Fische aufscheuchte, die im Hafenbecken ihre Kreise zogen.

Seit einigen Wochen lebten wir nicht mehr in der Pension, sondern waren auf Einladung Freymuth Kienzles in eine Angestelltenwohnung auf dem Gelände des Club Royal gezogen, welche er nebst einem recht großzügigen Kredites bereitzustellen sich erklärt hatte, um unsere Forschung zu unterstützen. So hatten wir uns endgültig entschieden, der HAW den Rücken zu kehren und waren folgerichtig ohne ein Wort des Abschieds aus dem Strelasunder Hof und damit aus dem Blick des Werks entschwunden. Nun verbrachten wir jede freie Stunde mit weiteren Studien unseres Gasgemisches, welches nach und nach seine Geheimnisse uns offenzulegen begann. Wir lebten wie zwei Alchemisten in ihrem Elfenbeinturm – es ging uns großartig.

All dies in meinem Geiste wendend, stand ich also am Wasser und ließ mir das seichte Netz aus Reflexionen von der Wasseroberfläche über mein Gesicht gleiten. Ich hielt meine Kopf in die Sonne und wäre darüber beinahe gegen eine Gestalt gestoßen, der ich zuvor als groben Umriss auf einem Poller sitzend, keine Beachtung geschenkt hatte. Dort saß ein Mann in einem hellen Mantel, die Haare zurückgekämmt, eine Papiertüte neben sich stehend. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich soweit berappelt hatte, dass ich in jenem unerwarteten Hindernis unseren Kameraden Ernst erkennen konnte. Zwei Jahre, nachdem er sich in Köln-Wahn in aller Stille abgesetzt hatte, wurde er hier und jetzt wieder vor meine Füße gespült.

Frage 34

Ernst von Rheide hat Ihnen von seiner Zeit nach dem Krieg berichtet. Waren diese Berichte glaubhaft und konnte er sie beweisen?

Ja, ich empfand seine Schilderungen als sehr glaubhaft, auch wenn er sie lediglich durch einige Zeichnungen und Notizen zu untermauern suchte. Jedoch muss ich dazu auch erwähnen, dass die Stimmung zwischen uns geprägt war von Freude und dem Glück unverhoffter Wiedervereinigung und nicht vom grundsätzlichen Misstrauen eines Verhörs. Wir waren beide überwältigt vom Zufall, der uns beide an diesem Morgen wieder zusammengeführt hatte.

Wie er mir berichtete, hatte es Ernst auf einigen Umwegen nach Rügen verschlagen, wo er nun als Portrait- und Kunstmaler an der Binzer Promenade seinen Unterhalt bestritt. Zumindest teilweise, denn wie er auch erwähnte, sei wohl das Leben eines Künstlers auf Rügen in keiner Weise so zu verstehen, dass man in der Sonne zu liegen hat bis man ein paar barbusige Grazien zu zeichnen sich aufgefordert sieht, nur um die nächsten wilden Feste zu finanzieren. So oder so ähnlich formulierte es Ernst, nicht ohne einen gewissen Anflug von Scham, der wohl von seiner Unfähigkeit rührte, die Ernsthaftigkeit seiner Tätigkeit in vollem Maße darlegen zu können.

Wie er nach Rügen kam, berichtete er mir auch. Es fand bereits in seinem Abschiedsbrief Erwähnung, dass er sich aus Angst vor einer späten Gefangennahme und der allgemein unübersichtlichen Lage nach Kriegsende in Richtung seines elterlichen Guts im nördlichen Holstein abgesetzt hatte. Bereits auf halbem Wege, in Ostfriesland, wurde er allerdings von einem Freikorps aufgegriffen, das ihn wohl auf die ein oder andere Weise dazu brachte, mit ihren Zielen zu sympathisieren. Er schloss sich der kleinen Gruppe ehemaliger Soldaten an, mit denen er nun durch die friesischen Lande zog, um Kommunisten und Reichsverräter zu stellen. Nach einigen Monaten jedoch wurden er und seine Kameraden bei Jever in eine Hinterhalt gelockt, wobei fast das gesamte Trupp erschlagen wurde.

Ernst konnte sich mit Glück erneut absetzen und gelangte über Umwege nach Hamburg. Dort verbrachte er die Sommermonate ohne Obdach und verdiente sich ein Zubrot als Hafenarbeiter – und er begann wieder zu zeichnen. Seine Skizzenbücher füllten sich mit großen Kränen am Altonaer Hafen, mit kräftigen Matrosen und mit deren Geschichten von Abenteuern, exotischen Früchten und geheimnisvollen Frauen in fernen Ländern. Eines Tages packte ihn erneut die Reiselust und er heuerte auf einem kleinen Dampfer an, der ihn bis nach Binz brachte.

Als ich ihn nach jener Narbe fragte, die ihm nun über sein rechtes Auge lief und die in Köln-Wahn mit Sicherheit noch nicht dort ihren Platz hatte – eine spannende und vielleicht sogar heitere Anekdote erwartend – antwortete Ernst verhalten. Es wäre nicht alles leicht gewesen in den letzten Jahren. Das wenigste, müsste er zugeben, könne er rückblickend als gelungen bezeichnen. Nun aber wäre er froh, dass ihn das Schicksal nach Rügen getragen hätte, wo er leben konnte, besser als an vielen anderen Orten und sich zwar Sorgen um die Zukunft im Ganzen, doch zumindest keine Sorgen um sein unmittelbares Leib und Leben zu machen hatte.

Frage 35

Wie genau führten sie Ihr Wiedersehen fort? Schildern Sie ihre weitere Unterhaltung und auch die Reaktionen ihres Gegenübers auf ihre eigenen Berichte.

Unsere gegenseitigen Berichte über die vergangenen Monate nahmen den ganzen Vormittag und einen Teil des Nachmittags ein. Nachdem wir die Überraschung unseres unverhofften Wiedersehens bei einem gemeinsamen, deftigen Mittagessen verdaut hatten, beschlossen wir unser Gespräch bei einem Bier fortzusetzen. Nahe des Stralsunder Hafens befand sich eine bekannte Eckkneipe, in der man zu jeder Zeit ein gutes Bier bekommen konnte. Bald standen wir am Tresen und sahen uns immer wieder ungläubig in die Augen. Zu dieser Zeit war es leer in der Schänke. Nur ein alter Seemann saß in der Ecke auf seinem Platz, auf dem er, wie es schien, seinen Lebensabend zu verbringen gedachte und zog an einer exotisch anmutenden Pfeife.

Nachdem wir einige Anekdoten über die gemeinsame Zeit in Wahn ausgetauscht hatten, auf die gute Zeit angestoßen und über so manche Geschichte von damals gelacht hatten, zog ich Ernst ganz nah an mich heran. Damit uns niemand hören konnte und wir auch sonst möglichst wenig Aufsehen erregten, fuhr ich mit gedämpfter Stimme fort, als ich begann, ihm von unseren Forschungen mit dem neu entdeckten Helitamin zu erzählen.

Es blieb bisher unerwähnt, dass wir seit einigen Tagen dazu übergegangen waren, das Gasgemisch auch an uns selbst zu testen. Aufgrund der durchgehend stabilen Versuchsabläufe, die uns mit den Kaninchen gelangen, war offenkundig geworden, dass die Einnahme des Mittels zu kontrollieren war. Unsere Erfolge setzen sich auch hier fort: Vorsichtig auf unser Gewicht angepasste Dosen Helitamin hatten uns seit einigen Wochen immer wieder im Laborraum des Club Royal abheben lassen.

Nach anfänglicher – durchaus verständlicher – Scheu und Ungläubigkeit zeigte sich Ernst ebenfalls sichtlich begeistert von unserer Erfolgen. In Wahn war er nicht in Walters und meine Arbeit eingeweiht worden und so war die Überraschung über unseren revolutionären Fund unter all den chemischen Verbindungen der Welt umso größer.

Alsbald setze ich Ernst ins Bild unserer Forschungen: Wir experimentierten mit verschiedenen Gefäßen, die das Gas transportfähig machen sollten. Von kleinen Ballons bis zu Metallgefäßen nach dem Vorbild großer Gasflaschen war die Zahl unserer Testobjekte noch recht groß. Ernst lauschte, selbst die Erfahrung der Leichtigkeit am eigenen Leib erfahrend, meinen Ausführungen vergangener Versuche, bei denen wir waghalsig wie zwei Testpiloten in stürmischer Nacht, langsam das Gas inhaliert hatten, bis sich unsere Sohlen langsam vom Boden lösten und der ganze, eigene Körper mit allen Gliedmaßen und Organen, Kilo um Kilo die Schwerkraft abstreifte und schwebte!

Eine leichte Übelkeit, wie sie Ernst ergriff, war auch Walter und mir nicht unbekannt. Muss der Mensch doch seinen Körper, den er über Jahrzehnte genau zu kennen geglaubt hatte, einen ganz neuen Zustand hinzufügen, als gäbe es nach dem Erlernen des zweibeinigen Gangs eine weitere Stufe der Fortbewegung. Diese nun erklomm Ernst als Dritter unseres Bundes und trat damit unserer ganz eigenen und neuen Spezies bei, die dem Homo Erectus nachfolgen sollte.

Walter und ich hingegen waren bereits an ganz anderer Stelle mit unseren Plänen. Nicht nur, dass mit dem großflächigen Einsatz von Helitamin der Mensch sich Transportmitteln wie Flugzeugen oder Eisenbahnen entledigen könnte. Mit einer kleinen Dosis und einem Propeller auf dem Rücken könnte er sich bequem und schnell in jede Himmelsrichtung bewegen, vielleicht über den Wolken, so dass selbst ungünstige Wetterlagen keine Rolle mehr zu spielen hatten. Ganz grundsätzlich ließe sich der Alltag in anderen Dimensionen denken, wenn der Mensch nicht mehr an die Horizontale der Erdoberfläche gebunden wäre. Wir fabulierten von kilometerhohen Häusern, aus denen die Menschen wie aus einem Bienenstock direkt zur Arbeit fliegen konnten. Mit Parkdecks für Automobile, die ebenfalls auf fliegenden Betrieb eingestellt waren.

Ernst wiederum erdachte fliegende Panzer und Bataillone von Soldaten mit Propellern unter den Füßen, die sie wendig werden ließen wie Insekten. Bajonette wurden zu Giftstacheln, ein fliegendes Volk von Kriegern, die jederzeit in kleinen Gruppen aus den Wolken auf ihre Feinde herabzustoßen befähigt wären.

Als gerechter Herrscher würde der Deutsche aus dem Himmel heraus den europäischen Kontinent verwalten und nach und nach, Schritt für Schritt, die verschiedenen Nachbarvölker bei ihrer Entwicklung und Veredelung zum fliegenden Menschen anleiten und begleiten. Wir hatten große Ideen. Helitamin eröffnete ein ganz neues Reich, das keine Grenzen mehr hatte, keine Kriege mehr kannte, sondern nur noch ein großes Deutschland auf seinem selbstgeschaffenen Olymp. Die Menschheit würde sich nach einer neuen, vertikalen Hierarchie ordnen, an deren Spitze wir stehen würden – Wir, die Gründer der neuen Ordnung, die Helitamiten!

Am Ende stießen wir mit zwei Stralsunder Goldwasser an. Ich hatte Kienzles süßliches Getränk auf irritierende Weise zu schätzen gelernt. Ernst weigerte sich, zum zweiten Mal an diesem Tag etwas zu kosten, das seinem Instinkt und seinem gesunden Menschenverstand widerspräche. Nach einigem Drängen konnte ich ihn jedoch auch dieses Mal überzeugen, den Schritt zu wagen und zumindest konnte Ernst nichts Schlechtes sagen über das goldene, dickflüssige Getränk, auch wenn er selbst wohl eine andere Wahl getroffen hätte, um den Tag ausklingen zu lassen. Vielleicht hätte er ja einen Korn präferiert.

Dann jedoch war Eile geboten, denn Ernst musste die letzte Fähre auf die Insel erreichen. Selbstverständlich brachte ich ihn noch zum nahegelegenen Anleger. Während wir auf die Fähre warteten, erzählte ich Ernst von unserem in naher Zukunft geplanten Treffen, welches Klarheit über die weitere Ausrichtung unserer Tätigkeiten Helitamin betreffend erbringen und naheliegende Schritte zu unseren Zielen festlegen sollte. Bisher waren es die bekannten Drei, die an solcher Art Absprachen beteiligt waren: Walter, Kienzle und meine Wenigkeit. Nun bot ich Ernst an, ganz ohne die Meinung der Anderen abzuwarten, der Vierte in dieser Runde zu werden. Kienzle hatte seit Wochen auf diese Treffen gedrängt, weniger zu planerischen Zwecken, sondern vielmehr, da ihm offensichtlich der Gedanke gefiel, einen Salon zu gründen, der sich mit solcherart fortschrittlichen Überlegungen zu beschäftigen pflegte. Ganz nebenbei konnte er seine umfassende Sicht auf die Welt immer wieder breit aufführen, um ganz eigene Schlussfolgerungen für Menschheit und Gesellschaft zu präsentieren. Ernst – sichtlich gerührt von meinem Angebot – versprach, in jedem Fall zu unserem Treffen zu erscheinen und seinen Beitrag zum Gelingen unserer chemischen Revolution zu leisten.

Ich erinnere mich noch einige Minuten am Kai gestanden und der Fähre hinterher geblickt zu haben, wie sie sich mit leichter Neigung aus dem Hafen hinaus in Richtung des gegenüberliegenden Ufers schob. In diesem Moment ergriff mich ein unbestimmtes Gefühl, die Gruppe für unser Unternehmen hätte sich nun gefunden. Mit Ernst könnte es etwas werden. Wir würden mit Helitamin die Welt aus den Angeln heben.

Frage 36

Wie entwickelte sich ihre Gruppe nach dieser Wiedervereinigung? Schilder Sie besonders das Verhältnis zwischen Walter und Ernst.

Das bereits erwähnte Treffen wurde eine Woche später in unserer Wohnung im Club Royal angesetzt. Walter, im ersten Moment wenig begeistert von einem weiteren Mitwisser, änderte nach kurzem Zögern seine Meinung. Wohl erhoffte er sich einen weiteren Verbündeten gegen Freymuth Kienzle, dessen Vorstellungen der Helitaminverwertung sich doch in erheblichem Maße von den unsrigen Unterschied, wie wir mittlerweile anerkennen mussten.

Am Abend des 19. Mai 1920 zirkelten Walter und ich also in nervöser Betriebsamkeit durch den Eingangsbereich unserer Wohnung. Unseren beiden Gästen war ein edler Umschlag zugestellt worden, darin eine handgeschriebene Einladung mit der Bitte versehen, dieses Schreiben zum Zwecke der Geheimhaltung nach Erhalt zu vernichten. Ähnlich geheimnisvoll sollte unser Empfang gestaltet werden. Einige Kerzen erhellten den fensterlosen Flur, welcher gewöhnlicherweise durch eine elektrische Glühbirne an der Zimmerdecke nutzbar gemacht wurde. Walter rubbelte mit einem weichen Tuch an einer Vase herum, um den Empfang bis aufs letzte Detail tadellos vorzubereiten.

Wichtigster Tagesordnungspunkt sollte die formlose Gründung eines Unternehmens oder Vereins sein, um unserer Gruppe endlich eine greifbare, verbindliche Konstitution zu geben. Eine Bedingung Kienzles, dem wir, auch wenn wir viele seiner Ideen nicht teilten, durch unsere neue Wohngelegenheit sowie die finanzielle Unterstützung auf gewisse Weise zu Zugeständnissen verpflichtet waren.

Irgendwann klopfte es an der Tür. Ich sprang herbei, um unseren Freunden zu öffnen. Hinter der Tür bot sich mir jedoch ein unerwarteter Anblick. Statt zweier verschwörerisch dreinblickender Männer stand da ein mir unbekanntes Paar. Feine, aufeinander abgestimmte Kleidung trugen beide und die Dame hielt ein kleines Präsent in Form einer Flasche in den vor ihrem Rock gefalteten Händen. Hinter den beiden, auf den zweiten Blick zu erkennen, stand Ernst, klein und schüchtern und zog ein Gesicht, als mache er sich auf eine Tracht Prügel gefasst.

Solcherart konfrontiert entzog sich mein Gesicht kurz jeglicher Kontrolle, obgleich mir bewusst war, dass eine Reaktion vonnöten gewesen wäre. Die Tür wieder zuzuschlagen mochte ich Ernst nicht antun, auch wenn ich jedes Recht der Welt auf eine solche Abfuhr gehabt hätte. Und so bat ich dann mit steifer Geste alle drei als Gäste in unseren geheimnisvoll ausgeleuchteten Flur.

Nach kurzer Begrüßung stellte sich die Situation wie folgt dar: Bei dem gut gekleideten Paar handelte es sich um Newt und Hildi Lody-Jones. Freunde Ernsts’ von der Insel Rügen. Hildi, in keinster Weise verlegen oder meine eigene Verlegenheit beachtend, streckte mir sofort ihre Hand entgegen. Rückblickend erinnere ich, dass sich in mir bereits in diesem Moment der Eindruck einer gewissen Übergriffigkeit bildete, der sich in den folgenden Monaten verfestigen sollte. Walter schien von der Situation ebenfalls überfordert. Er stand in der Ecke und wrang still an seinem Staubtuch.

Ernst, bemüht die bestehende Verbindung der Drei zu erklären, sah sich zu dem Geständnis genötigt, hauptsächlich von Zuwendungen dieses Paares seinen Unterhalt auf Rügen überhaupt bestreiten zu können. Sie waren sozusagen seine Mäzene und er war von jenem Pärchen abhängig, das ihn als kulturelle Erfrischung und drittes Rad gern um sich hatte und dafür auch Kost und Logis des jungen Kunstmalers zu zahlen bereit waren.

Als Walter mit Weingläsern in den Flur zurückkehrte – er hatte sich im Moment größten Unbehagens aus dem Zimmer gestohlen – trat eine kugelförmige samtene Kutte durch die noch immer offen stehende Wohnungstür herein. Es war Kienzle, der nun jene ihn bedeckende Kapuze zurück warf und in dramatischer Geste seine Identität zu erkennen gab. Erst in diesem Moment bemerkte er die beiden Unbekannten im Raum und ruinierte die geplante Wirkung seines Auftritts durch einen kurzen Moment der Fassungslosigkeit.

Nach wiederholter Klärung der Situation begaben wir uns nun endlich alle gemeinsam in die Stube, wo Walter und ich einen Salon so gut es ging vorbereitet hatten. Ein unerwartet interessantes Gespräch entwickelte sich im Folgenden und ich begann meine Zurückhaltung zu verlieren ob dieser neuen, unerwarteten Konstellation. Das Ehepaar Loyd-Jones gab ein merkwürdiges, aber unterhaltsames Bild ab. Meist war es Hildi, die mit großer Geste jene leisen Anmerkungen und Überlegungen aus dem Englischen übersetzte, die ihr Gatte mehr für sich murmelte. Newt war ein Philosoph und ein großer Verehrer Nitzsches, das wurde schnell deutlich. Ein Hauch von Übermensch schwebte an diesem Abend allgegenwärtig durch den Raum.

Mir entging nicht – denn auch ich war des Englischen mächtig –, wie sehr Hildi die ursprünglichen Kommentare ihres Mannes abänderte oder verkürzte. Newt, selbst nicht willens Deutsch zu sprechen, sehr wohl aber in der Lage dieses zu verstehen, reagierte auf ihre Interpretationen stets mit gequält zuckenden Mundwinkeln. Jedoch, er schritt kein einziges Mal ein, um sie zu korrigieren.

Frage 37

Bitte beschreiben sie ihren Eindruck der Loyd-jones über dieses erste treffen hinaus.

Wie wir im Weiteren erfuhren, verlegten die Loyd-Jones ihren Wohnsitz jeden Sommer nach Rügen, um der Enge Berlins zu entfliehen. Im Norden der Insel besaßen sie eine Villa, weiß und rosa gestrichen und in einem romantischen, kleinen Kiefernwäldchen etwas abgeschieden gelegen.

Newt war in der Nähe von Leeds aufgewachsen, wo seine Eltern über eine Tuchfabrik und eine kleine Länderei verfügten. Frei, sich seine Ziele im Leben nach eigenem Ermessen zu setzen, begann Newt ein Studium der Philosophie an der Universität in Oxford, wo er besonders für jenen bereits erwähnten deutschen, schnauzbärtigen Philosophen eine besondere Ehrerbietung entwickelte. Selbst ließ er sich ebenfalls einen solcherart markanten Oberlippenbart stehen, ganz als brächte ihn diese phantasielose Mode bereits in die Nähe seines, ihn in allen Belangen überragenden Idols. Ich begann einen stillen Groll gegen Newt zu hegen, der mir auf unbestimmte Weise ähnlich schien, jedoch so ganz andere Schlüsse aus diesen Voraussetzungen zog, denen ich mit Neid und Geringschätzigkeit gleichermaßen zu begegnen mich gezwungen sah.

Auf einer Studienreise durch Deutschland begegnete Newt in Berlin der jungen Sprachlehrerin Hildi. Sie bewegte sich in Kreisen völkisch-nationaler Ausrichtung, was ihrer pädagogischen Tätigkeit einige weitere Facetten ideologischer Bildung hinzufügte.

Sie unterrichtete ihre Studenten nicht bloß in deutscher Sprache und Kultur – sie half zugleich der Erkenntnis zum Durchbruch, dass und warum die Deutschen die überlegene Rasse weltweit und auf dem europäischen Kontinent seien. Obgleich kein echter Deutscher, erkannte Hildi in ihrem neuen Schüler Newt doch eine Ausnahmeerscheinung Angelsächsischen Erbguts – was sein Interesse für germanische Kultur noch zu unterstreichen schien. Sie heirateten noch im selben Jahr zur Sommersonnenwende.

Ernst hatte die beiden beim Versuch kennengelernt, einige seiner Gemälde zu veräußern. Er war dazu übergegangen, ungefragte Hausbesuche in jenen Villen vorzunehmen, die, gleich der Residenz der Loyd-Jones, Rückschlüsse auf Geld und Kultur zuließen, um Malereien oder kleine Zeichnungen direkt an der Tür zu verkaufen. Die drei verstanden sich bereits nach kurzer Zeit ganz außergewöhnlich gut und pflegten seither einen regelmäßigen Austausch über Kunst und die Vergänglichkeit der Welt im Allgemeinen zu führen, wobei das Paar in loser Regelmäßigkeit weitere Werke des jungen Malers erstand.

An einem solchen lauen Frühlingsabend, nach zwei Flaschen halbtrockenem Weißweins, hatte Ernst sich ganz einfach um Kopf und Kragen geredet bei dem Versuch, die beiden mit Anekdoten aus seinen Künstlerkreisen zu unterhalten. Er wollte wohl nur einige geheimnisvolle Andeutungen zu seinem Freund Otto machen, verwickelte sich aber in solch große Ungeschicklichkeiten, dass er am Ende nicht anders konnte als die ganze Geschichte unseres Wiedersehens und unserer Entdeckung zu berichten.

Solcherart in die Enge geraten, konnte Ernst den beiden selbstverständlich nicht vorenthalten das geschilderte Treffen mitzuerleben. Da das Paar in seiner sommerlichen Zurückgezogenheit nach Abenteuer sowie weiterer Gesellschaft nahezu dürstete, drängten sie ihren neuen Freund den Termin zu dritt zu bestreiten.

Frage 38

Wie bewerten Sie die Dynamik innerhalb der Gruppe im Verlauf der folgenden wochen?

Mir entging nicht, dass Ernst auf Grund seiner geschilderten Verfehlung in ganz besonderem Maße bemüht war, die vorhandenen Irritationen auszuräumen. Es war in der Tat so, dass die neue Zusammensetzung unserer Gruppe einem zögerlichen, abwartenden Umgang miteinander Vorschub geleistet hatte. Jedoch wurden durch diese veränderte Konstellation auch neue Facetten in jedem Einzelnen unserer kleinen Truppe sichtbar, die mir zuvor verborgen geblieben waren.

So wurde mir erst im Laufe dieser nun folgenden Treffen bewusst, dass Ernst eine Vorstellung gesellschaftlicher Ordnung vorschwebte, die Newts Vision einer Schicht fliegender Übermenschen sehr ähnlich war. So sponnen beide an einer Strategie, eine, mit Helitamin geförderte deutsche Adelsschicht zu restaurieren, die mir selbst fremd war und die auch nicht recht Platz in meinen Vorstellungen unserer zukünftigen Gesellschaft finden mochte. Die beiden – oder besser die drei, denn Hildi wiederholte wie erwähnt jeden Beitrag ihres Gatten mehr oder minder korrekt – dominierten mit ihrer Idee eines monarchischen Neuanfangs den Diskurs der nächsten Wochen. Kienzle, der seit Wochen eine vorausgefüllte Patentanmeldung in der Schublade verwarte, wurde nach anfänglicher Dominanz in den Hintergrund gedrängt, mit seiner Idee von Helitamin als Genussmittel. Er saß in seine Kutte gekleidet am Tisch und ließ nur ab und zu ein verächtliches Grunzen verlauten, wenn Begriffe wie Weltgeist, Wiederkehr oder Todessehnsucht fielen.

Auch Walter war diese Fragmentierung der Interessen aufgefallen und sie beunruhigten ihn, wie er mir einmal nach einem solchen Treffen schilderte, während wir die Möbel unseres Salons wieder an ihren rechten Platz rückten. Während der Treffen war er ebenfalls still geworden. Die von ihm verfassten Protokolle unserer Sitzungen waren übersäht mit kleinen Strichmännchen, Mustern und Ornamenten. An manche Notizen hatte er einen kleinen Totenkopf gezeichnet, an andere einen Blitz oder eine Wolke.

Die Dynamik innerhalb unserer kleinen Gruppe war nun solcherart geprägt, dass stille Aggression, Misstrauen und Missgunst den Ton bestimmten. Hildi und Newt der Gruppe wieder zu verweisen war uns bereits nach dem ersten Treffen als zu riskioreich erschienen, was nicht nur meinen Ärger auf Ernst weiter befeuerte, sondern auch Walters und Kienzles Ärger auf meine eigenmächtige Einladung.

Rückblickend kann man sagen: bereits nach kurzer Zeit sahen wir uns außer Stande eine gemeinsame Linie zu finden, um auch nur einem einzigen unserer zahlreichen Pläne zur Umsetzung zu verhelfen.

Jedes der Treffen, die immerhin noch in regelmäßigen Abständen in unserer Bleibe im Club Royal stattfanden, musste in stiller Verzweiflung ohne weitere Beschlüsse beendet werden, so dass schlussendlich sechs niedergeschlagene, jedem anfänglichen Elan beraubte Menschlein übrigblieben, die – zu schwach, um sich auf anständige Weise zu verabschieden – still ihrer Wege krochen. Sicherlich muss hierbei jedoch auch der stetig steigende Konsum unserer Helitaminproben gegen Ende einer jeden Sitzung Erwähnung finden. Denn die mit unseren Treffen verbundenen Testreihen am lebenden Objekt, wenn auch mit einem glücklichen Gefühl des schwebenden Zustandes belohnt, waren doch auf eine ganz und gar neue Art kräftezehrend. In besonderem Maße schien mir Freymuth Kienzle durch diese Anstrengungen gezeichnet, war er doch von seiner körperlichen Beschaffenheit her gänzlich ungeeignet für sportliche Ertüchtigung jeglicher Ausprägung.

Frage 39

Am 7.11.1921 endete ihr Leben recht abrupt. Zeitgleich tagten Ihre Kumpanen, sie waren dem Treffen jedoch fern geblieben. Warum?

Es entspricht der Wahrheit, dass ich mich an diesem Tag sehr früh unserem Treffen entzogen hatte. Seit einiger Zeit war es bitterkalt und ich war bemüht, vor Einbruch des Winters einige Dinge in unserer Werkstatt zu richten. So war die Ordnung zweier Abstellflächen vorzunehmen, welche über die nächsten Monate nicht zu heizen waren und die deshalb nun vor der sich ankündigenden Kälteperiode einer gründlichen Überarbeitung bedurften. In der Werkstatt selbst war es warm und trotz der exponierten Lage des gesamten Club-Anwesens konnte man selbst die provisorischen Werkstatträume durchaus als gemütlich bezeichnen.

Meine Anwesenheit während unserer Sitzung empfand ich als obsolet, konnte ich doch wie ich mich bereits anzudeuten bemüht habe, wenig Positives in den Zusammenkünften sehen und auch meine eigene Rolle in dieser ewig sich wiederholenden Diskussion nicht recht finden. Der Ton untereinander war außerordentlich aggressiv und ich war ganz und gar abgestoßen von der Art und Weise, mit der sich meine Freunde und vermeintlichen Verbündeten gegenseitig über den Mund zu fahren pflegten. So war ich glücklich um jede Ausrede. Vor einigen Wochen war es uns gelungen einen großen Kompressor anzuschaffen, der beim Abfüllen des Gases in Gefäße sich dienlich machen sollte. Nach einigen technischen Änderungen meinerseits wäre er sogar in der Lage versetzt gewesen, das Gas in seine flüssige Form zu komprimieren, was Helitamin in unserer Vorstellung zu einem Getränk hätte machen können! Freymuth war selbstredend ganz beglückt über diese neuen Möglichkeiten und hatte sogleich eine weitere Finanzierung veranlasst.

Dass es überhaupt möglich geworden war, dieses Gerät zu erwerben, kommt einem Wunder gleich. Denn die so genannten leichten Deutschen waren zerstritten wie nie. Hildi, Newt und Ernst waren zu der Erkenntnis gelangt, dass die Bevölkerung durch einen progressiven, impulsiven und aggressiven Akt an die Nutzung von Helitamin als neues Mittel zur gesellschaftlichen Auslese herangeführt werden musste. Ihnen schwebte eine Einspeisung des Gases in die Berliner U-Bahn vor, um möglichst viele Menschen mit dem neuen Stoff zu ◊infizieren“, wie sie sich ausdrückten. Nun drängten sie die restlichen Gruppenmitglieder ihre Zustimmung zu diesem ihrem Plan zu geben. In der angespannten Situation einer bevorstehenden Entscheidung trug ich schwer an der Sorge, die Drei würden irgendwann die Geduld mit uns Zauderern verlieren und einfach zur Tat schreiten. Stetig waren Walter und ich bemüht, sie im Gespräch zu halten und ihren Frust zu dämpfen, um keine vorschnellen Aktionen zu provozieren.

Auf der anderen Seite war sich Kienzle dieses Balanceaktes nicht bewusst. Er war, wie Sie sich denken können, entgegengesetzter Meinung und beharrte auf einer finanziellen Ausschöpfung des Mittels, das sich eben gerade nicht durch partisanenhafte Aktionen, sondern durch eine solide Vermarktung im Bereich der Luxus- und Konsumgüter erreichen ließe. Sein nicht unerhebliches Argument waren seine finanziellen Zuwendungen, von denen wir nach wie vor abhängig waren und um derer Willen wir auch bemüht waren, Kienzle immer wieder mit dem Gefühl auszustatten, seine Vorstellungen befänden sich auf einem stetigen Pfad der Umsetzung.

Walter und ich hatten zu diesem Zeitpunkt bereits jegliche eigenen Ziele und Wünsche fahren lassen, die uns ursprünglich Ansporn waren die ganze Unternehmung überhaupt aus der Taufe zu heben. Nun sahen wir uns ernüchtert in einem Haufen zerstrittener Vögel, die einander versuchten die Augen auszupicken. Walter schmierte weiter seine kleinen Ideen in jene sinn- und zwecklosen Protokolle, die er nach wie vor von unseren Treffen anfertigte. Vormals große Visionen in wenigen zarten Strichen. Seitenweise fliegende Maschinen, Menschen mit kleinen Turbinen an den Füßen und Antennen auf dem Kopf. Paläste zwischen Wolken, die über dem Bayrischen Wald hingen, unter ihnen deutsche Tannen und ein Hirsch, still und majestätisch an einem See. Banderolen für Flaschen mit Mittelchen gegen Rheuma, Gelenkschmerzen und Niedergeschlagenheit. Eine Zigarre für die Frau von heute. Helitaminbars aus Nussholz. Plakatwerbung mit zwei Knaben in Uniform.

Statt mich der Abstellflächen zu widmen, schraubte ich mit großer Begeisterung an unserem neuen Kompressor herum. Dabei muss wohl ein Schlag mit dem Hammer schlecht positioniert auf die falsche Stelle des Ventils getroffen sein, denn mit einem lauten, betäubenden Knall spürte ich wie es mich mit dem gesamten Gebäude anhob und in den nächtlichen Himmel hinaustrug. Die Maschine, nunmehr zum Raum geworden der mich umgab zu meiner Welt die mit mir hinaus drängte und nicht aufzuhalten war von Mauern. Alles wirbelte an mir vorbei und entschwand brennend in den nächtlichen Himmel bis man es nicht mehr von den Sternen rundherum zu unterscheiden vermochte.

Frage 40

Beurteilen Sie ihr Unglück im Nachhinein auch als Ergebnis der Verfehlungen anderer?

Selbst jetzt, wo es unstrittig ist, dass ich es war, der das Ventil zum Platzen brachte – solch ein Unglück geschieht immer als Folge zahlreicher einzelner Verfehlungen. Am Ende kann und muss man die Frage stellen, ob es überhaupt zu verhindern gewesen wäre. Und letztendlich auch, ob, wenn nicht ich, ein Anderer statt meiner dieses Schicksal zu erleiden gehabt hätte.

Als ich in den letzten Momenten irdischer Wahrnehmung die Stadt unter mir kleiner werden sah, ganz als würde ich nicht sterbend mich aus dieser Welt zurückziehen, sondern als werfe man mich zum Ende meines Lebens einfach von diesem unserem Planeten hinunter, da war mir, als hätte es nie zu keinem der zahlreichen Ihren Fragen gemäß geschilderten Momenten die ernsthafte Gelegenheit zur Abkehr gegeben. Jede Entscheidung war zwangsläufig. Meinen Grundsätzen und den zu genüge geschilderten Motivationen folgend war nur und ausschließlich dieser Weg für mich möglich. Nun, im Nachhinein die Alternativen zu beleuchten, scheint mir wohlfeil, im Angesicht der Tatsache, dass ich mich – bei ehrlicher Betrachtung der Dinge – jedes Mal wieder so entscheiden würde.

Wer hier in besonderer Weise hervorstechen könnte? Ich vermag es nicht zu sagen. Es ist wohl Schicksal, wenn sich Umstände so ineinander fügen, dass am Ende der Tod eines Menschen steht.

Wobei an jedem Ende der Tod zu stehen pflegt. Das gehört wohl zusammen. Jedes Ende ist mit Menschen verknüpft. Und jeder Mensch hat ein Ende. Was ich damit sagen will, weiß ich nicht genau. Aber nun an dieser Stelle, nachdem alles vorbei ist, Schuldige zu benennen, erscheint mir nicht redlich. Und nicht den beschriebenen Umständen entsprechend.

Was bleibt, ist die Ironie meines verfrühten Todes, der mich nach allen Wendungen meines Lebens um das Thema der Luftfahrt am Ende beinahe physisch in den Himmel befördert hat. Es scheint mir fast so, als wäre all die Forschung ein immerwährender Versuch gewesen, den ewigen Frieden der Himmel zu fassen, ihn erreichbar zu machen und somit in die Sphäre der Lebenden zu zerren. Aber kann man einem Menschen Todessehnsucht als Sünde vorwerfen? Und bringt mich diese Suche nach Nähe, letztendlich, wo ich nun vor Ihnen stehe, der Erlösung näher?

Epilog

Frage 10

SCHILDERN SIE IHR VERHÄLTNIS ZU DEN ANDEREN LEHRLINGEN. WELCHE AKTIVITÄTEN HABEN SIE GEMEINSAM ABSOLVIERT?

Ich muss wohl gestehen, dass mir bereits früh die Hoffnung auf ein gesundes Verhältnis zu den gleichaltrigen Knaben verloren ging. Nicht allein das erwähnte Seminar Walter Strohbrücks entzweite uns zusehends, auch in anderen Ausbildungsbereichen fanden wir nicht zusammen. Wo andere nur mit größter Mühe dem Unterricht zu folgen vermochten, verlor ich schnell das Interesse, sobald ich Sinn und Inhalt der Lehreinheit verinnerlicht hatte – und meine Erkenntnisse den Kollegen kundtat. Allein, dieses Verhalten war eine denkbar schlechte Voraussetzung für ein gesundes Miteinander.

Walter und ich hatten bald eine Übereinkunft getroffen. Er erhob mich zu einer besonderen Art von Hilfswissenschaftler, was mein Selbstwertgefühl ungemein anschwellen ließ. Im Gegenzug war ich zur Stelle, sobald sich ein pädagogisches Luftloch in seinem ansonsten sehr windschnittigen Unterrichtsverlauf auftat und ich beantwortete gern Fragen, so ihre Lösung den unterlegenen Kollegen  nicht gegenwärtig war. Weiterhin assistierte ich bei Experimenten und reinigte die Apparaturen vor und nach dem Unterricht. Aus heutiger Perspektive erwies sich diese Aufgabenverteilung als nicht gerade förderlich für das komplizierte Verhältnis zu meinen Altersgenossen.

In meinen wenigen freien Stunden bekam ich bald exklusiven Zugang zum Labor und allen Gerätschaften – was für mich einem Paradies auf Erden gleich kam. Ähnlich den ersten Menschen vergaß ich Zeit und Raum und fühlte mich in einer ganz natürlichen, mir eigenen Umgebung, in diesem kleinen Garten voller Erlenmeyerkolben, Bunsenbrennern und Petrischalen. Das Labor wurde mir ein Panzer, den ich – wann immer es ging – überstreifte, um mich der Welt und ihren Unerbittlichkeiten zu entziehen.

Indes gewann ich mehr und mehr Einblicke in das Innere meines neuen Freundes Walter, der mich mit seiner Art und seinem Wesen zu begeistern vermochte. Wie man sich denken kann, war Walter keinesfalls jener Hefepilz verspeisende Wirrkopf, für den er gemeinhin gehalten wurde. Vielmehr erkannte ich in ihm einen sensiblen Visionär, dem das Wohl der Menschen wie auch der Fortschritt der Wissenschaften gleichermaßen am Herzen lag. Beides war er bemüht in den von ihm formulierten und bis heute gültigen sozio-chemischen Thesen zu vereinen. Er hatte sie einige Jahre zuvor in einem Büchlein zusammengefasst, um sie in leichter Dosierung seinem Unterricht beizumischen – freilich ohne dass ihm jemals eine erwähnenswerte Resonanz zuteil wurde. In dieser kargen Umgebung hatte es wohl einen gelehrigen und talentierten Schüler wie mich gebraucht, um den zarten Samen der Erkenntnis zu pflanzen, auf dass er in den nächsten Jahren zu einer prachtvollen Blüte aufzugehen vermochte. Schon früh war mir klar, dass seine Theorie uns den Boden für weitere, noch zu schildernde Entdeckungen und Revolutionen bereiten sollte und oft spendete mir diese Gewissheit Trost, wenn das Leben mit aller Macht seine Prüfungen auf mich niederfahren ließ.